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Annäherung andie Wiener Seele

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Man kann sich dem Phänomen Wien und seinen Bewohnern auf verschiedenen Wegen nähern, einer ist über Bücher.

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Man kann sich dem Phänomen Wien und seinen Bewohnern auf verschiedenen Wegen nähern, einer ist über Bücher.

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Wer sich lesend dem Phänomen des „Wienertums“ nähern will, sollte zu Friedländers „Das war Wien um 1900 - Letzter Glanz einer Märchenstadt“ greifen. Obwohl vor mehr als 60 Jahren geschrieben, ist die Schilderung verblüffend aktuell geblieben. So wird etwa die Gleichgültigkeit der Wiener gegenüber obrigkeitlichem Unrecht durch einen Vergleich mit der Dreyfus-Affäre deutlich gemacht. Der französische Offizier wurde - wie man weiß — fälschlich der Spionage bezichtigt. Das „J‘accuse“ eines Emile Zola gegen Degradierung und Verurteilung könnte in einem vergleichbaren Fall hierzulande keine große Aufmerksamkeit finden, meint Friedländer. Man hätte gesagt: ohne Grund schreiten Behörden nicht ein. Irgend etwas müsse schon vorgefallen sein. Es gibt keinen Rauch ohne Feuer. Zumindest habe sich das Opfer ungeschickt benommen.

Bei geschichtlichem Interesse kann zu alten Ausgaben von bewährtem Reiseführern gegriffen werden. Der Baedecker aus dem Jahr 1846 erzählt von den Verhältnissen im Vormärz. Damals mußte der Reisepaß in jeder größeren Stadt der Monarchie auf dem Polizeiamt „visiert“ werden; ein besonderer Passierschein war auch beim Verlassen der Stadt erforderlich. Wer keinen hatte, konnte „am Thore mit einem Zwanziger seinen Zweck vielleicht auch erreichen“. Bücher wurden in Beschlag gelegt und an das Zensuramt nach Wien geschickt, von wo sie „dem Reisenden, insofern sie nicht verboten waren, wieder zugestellt“ wurden. Wirkt Metternich subkutan bis in unsere Tage?

Aber auch das Wiener Lied bietet sich als Pfadfinder an: Wie aufschlußreich sind nicht Texte wie „Verkaufes mei Gwand, i fahr im Himmel“ oder „Heut spieln die Schrammeln und morgen fress“ ma Grammeln, das kann nur a Weaner verstehn“! Die Sorge, wie es demnächst weitergeht, ist in dieser Stadt nicht sehr ausgeprägt. Wennmtwas schief läuft, sucht man die Schuld anderswo, notfalls im transzendentalen Bereich: „Wenn der Herrgott net will, nutzt‘s gar nix“ oder „sagen wir, es war nix.“

Die Bereitschaft, sich in die Abhängigkeit anderer zu begeben, ist dementsprechend groß. Deutlich wird dies, wenn man in Wien, fragt, wie es geht. Eine häufige Antwort ist: „Wie die anderen wollen.“ Es ist völlig unmöglich, diesen Satz sinnvoll in andere Sprachen zu übersetzen.

An der Schnittstelle zwischen dem tüchtigen, manchmal auch als kalt empfundenen Nord westen und dem liebenswerten, wenn auch nicht immer unproblematischen Südosten weicht man der Eindeutigkeit aus. Man kommuniziert verschlüsselt und versteht doch sehr gut, was gemeint ist. Fritz Molden belegt dies mit einer Geschichte in seinem Buch „Felopinski und Waschlapski auf dem berstenden Stern“: Sein Onkel war gegen Ende des vorigen Jahrhunderts Bezirkshauptmann des böhmischen Städtchens Prachatitz. Bei einem Besuch seiner Majestät des Kaisers glaubte der Monarch, seinem treuen Beamten schon früher begegnet zu sein. Onkel Oskar stand stramm und sagte: „Zu Befehl, Majestät, hatte 1878 bei der Okkupation von Bosnien die Ehre, als Flügeladjutant des 2. Korps im Hoflager Eurer Majestät Dienst tun zu dürfen“. „Ja, ja, lieber Freimd, wir werden alt“, meinte Franz Joseph. „Und blöd, Majestät“ rief der unglückselige Bezirkshauptmann.

Zunächst geschah nichts. Nach einiger Zeit, man hatte den peinlichen Vorfall schon fast vergessen, wurde Oskar von Negedly zur Audienz beim Oberhofmeister ins Schloß Schönbrunn befohlen. Dort eröffnete ihm Fürst Montenuovo überaus freundlich: „Weißt, lieber Negedly, da war doch diese kleine Geschichte draußen, der Zwischenfall in Prachatitz. Sag einmal, war doch ein bisserl unangebracht, deine Bemerkung, bisserl kompliziert, die Situation. Weißt, Seine Majestät haben darüber nachgedacht und haben gefunden, in dem Fall wäre es günstig, wenn einer von den betroffenen Herren in Pension gehen würden. Und Majestät haben gefunden, bei dir ist‘s einfacher.“ Onkel Oskar verstand und suchte umgehend um seine Pensionierung an. Wer die nur in Lichtjahren zu messende Entfernung zwischen dieser österreichischen Art und dem amerikanischen „you are fired “ erkennt, hat Zugang zu einem wichtigen Aspekt der Wiener Seele gewonnen.

Und wie steht es mit Neid und Mißgunst in Wien? Ein Engel fragt einen New Yorker, was er sich wünscht. „Ich möchte ein Haus, das so groß ist wie das meines Nachbarn“, ist die Antwort. „Gewährt“, sagt der Engel und fliegt nach Frankreich. Der Pariser wünscht sich eine Freundin, die so hübsch ist, wie die seines Arbeitskollegen. Der Himmel zeigt Verständnis. Schließlich möchte der Engel wissen, welchen Wunsch der Wiener hat. Dieser zögert nicht lange: „Mein Nachbar hat ein neues Auto. Ich möchte, daß er die Raten nicht zahlen kann und wieder zu Fuß gehen muß.“

Dazu gehört auch der inzwischen widerrufene Ministerialerlaß, in dem die Kulturinstitute im Ausland angewiesen wurden, „die österreichische Kulturpolitik möglichst positiv und zumindest objektiv darzustellen“. Eine positive Darstellung der österreichischen Kulturpolitik wäre also nicht objektiv?

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