Ernaux - © Foto: Imago / Agencia EFE

Annie Ernaux: „Unverrückbare Steine“

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Spät wurde die französische Schriftstellerin Annie Ernaux im deutschen Sprachraum entdeckt und neu übersetzt. Auch ihr Buch „Die Scham“ zeigt, wie persönliche Erinnerung zur Quelle für kollektive Geschichte werden kann.

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Spät wurde die französische Schriftstellerin Annie Ernaux im deutschen Sprachraum entdeckt und neu übersetzt. Auch ihr Buch „Die Scham“ zeigt, wie persönliche Erinnerung zur Quelle für kollektive Geschichte werden kann.

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Mit dem ersten Satz hält sie einen ungeheuren Wendepunkt in ihrem Leben fest. Am 15. Juni 1952 ist Annie Ernaux zwölf Jahre alt. Als sie 1997 „La Honte“, „Die Scham“, veröffentlicht, wird sie 57 und hat bereits einige Bücher publiziert. Doch jene Szene, mit der sie dieses Buch beginnt, schreibt sie zum ersten Mal auf. Nicht einmal als Notiz im Tagebuch war ihr dieser ungeheuerliche Satz bis dahin möglich: „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“

Diese Erfahrung lag danach „wie ein Filter zwischen mir und allem, was ich erlebte“. Aus der unbekümmerten Schülerin, „der immer alles leichtgefallen war“, wird ein Mädchen mit geschärftem Bewusstsein. „Die Scham“: das ist der erzählende, forschende Versuch, „die seit Jahren eingefrorene Szene in Bewegung [zu] versetzen, damit sie nicht länger etwas Heiliges in mir ist, eine Ikone (ein Beweis dafür ist zum Beispiel der Glaube, dass sie es ist, die mich zum Schreiben bringt, dass all meine Bücher auf ihr beruhen).“

Was ist damals geschehen, und wie findet man hin, in diese fernen Jahre der Kindheit, in diese Welt? Annie Ernaux wählt den Weg der Sprache. Sie schreibt aber keine Erzählungen, die Erinnerung erfinden. Ernaux behandelt ihre Erinnerungsbilder als Quellen, „die etwas aussagen, wenn man sie mit unterschiedlichen Herangehensweisen betrachtet“. Als „Ethnologin meiner selbst“ betreibt sie eine Art soziologische Geschichtsschreibung.

Es gilt‚ die Worte wiederzufinden, mit denen ich damals über mich selbst und die Welt nachdachte.

Es gilt „die Worte wiederzufinden, mit denen ich damals über mich selbst und die Welt nachdachte.“ Ernaux versucht, sich „die Gesetze und Riten, die Glaubenssätze und Werte der verschiedenen Milieus [zu] vergegenwärtigen“. Welche Sprachen und Codes machten das zwölfjährige Kind damals aus? Wie unterschieden die Dinge bzw. deren Verteilung denn die diversen Milieus? Welche feinen Unterschiede machten die diversen Orte?

Da ist der Unterschied zwischen Zentrum und Wohnvierteln (der „Wert der Viertel nimmt ab, je weiter man sich vom Zentrum entfernt“). Da ist der Unterschied, der sich in der Sprache zeigt. Hier sprechen die Menschen „gutes“ Französisch, dort „schlechtes“. Die Unterschiede von Männern und Frauen, von Höflichen und Unhöflichen festigen klare Regeln.

Kollektive oder familiäre Riten strukturieren die Woche von Montag bis Sonntag: Essen, Radiosendungen, Putzen, Waschen, Messe – alles hat seinen Platz und das macht Ordnung. Ernaux rekonstruiert die Welt der katholischen Privatschule. „Alles, was diese Welt stärkt, wird gefördert, alles, was sie bedroht, wird kritisiert und schlecht gemacht.“ In ihrer literarischen „Forschungsreise“ legt Annie Ernaux die Regeln bloß, in denen sie als Kind lebte, das sich nichts anderes vorstellen konnte. „Die Wörter, die mir jetzt wieder einfallen, sind undurchsichtig, unverrückbare Steine.“ Sie sind „Gesetzestafeln“.

Nie wieder wurde in der Familie über die anfangs erwähnte Szene gesprochen. Mit ihr setzte aber etwas ein, das von da an Ernaux ständig begleiten wird: Scham. Was sie an diesem 15. Juni 1952 erlebte, entsprach nicht der vertrauten Welt. Auf einmal sah sie all die Markierungen, die ihr ihren Platz in der Gesellschaft zuwiesen, die „Zugehörigkeit zu einer Klasse, der die Privatschule mit Ignoranz und Verachtung begegnete.“ Es ist die Scham, mit der das Mädchen von da an lebt, es „war normal, sich zu schämen“. Diese Scham schafft Distanz zur Herkunft, sie vereinzelt – und sie bleibt.

Hinweis: Begegnungen: Stichwort „Familienökonomie“
Lydia Mischkulnig, Brigitte Schwens-Harrant und Christa Zöchling diskutieren über Ken Buguls „Riwan oder der Sandweg“ und Annie Ernaux’ „Die Scham“
22.2.2021, 19 Uhr.
Livestream: alte-schmiede.at

Die Scham - © Suhrkamp Verlag
© Suhrkamp Verlag
Literatur

Die Scham

Roman von Annie Ernaux
Aus dem Franz. von Sonja Finck
Suhrkamp 2020
110 S., geb., € 18,50

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