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Antisemitismus als Phänomen

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Bedurfte es nach dem Erscheinen des Standardwerks „Judenfeindschaft, Darstellung und Analysen“ von Karl Thieme (Originalausgabe der Fischer-Bücherei, Nr. 524, Frankfurt am Main, 1963), der neben eigene Texte solche hervorragender Mitarbeiter gesetzt hatte, weiterer Bücher zum Thema im deutschsprachigen Raum? Wiewohl das dort vorgelegte Material, von Details abgesehen, kaum zu übertreffen ist, lautet die Antwort: Ja. Denn es hat sich gezeigt, daß nach dem grauenhaften Morden der Nationalsozialisten eine vielschichtige Tabuierungs-welle eingesetzt hat, die dazu angetan ist, die nun einmal vorliegende Problematik in entscheidenden Teilbereichen, sowohl faktenmäßig wie psychologische Reaktionen betreffend, zu verdrängen, zu verdrehen und zu verfälschen. Was jedoch in die Kavernen des Unbewußten hinabgestoßen wird, wirkt nicht nur unterschwellig weiter, sondern liegt als verkapselter Sprengstoff der Kollektivpsyche bereit, bei nächster Gelegenheit in unvorhersehbarer Form und auf unvorhersehbaren (auch komplementären) Gebieten Leben, Kultur und Entwicklung zu verheeren.

Gerade hier setzt Andics, dessen Darstellung auf ausgezeichneter Dokumentation fußt, geradezu leidenschaftlich ein, wenn er, wie es schon in Thiemes Buch geschah, auch die jüdischen Beiträge zum Antisemitismus nüchtern, fast möchte man sagen mit besonderem Nachdruck, untersucht. Denn von allen Tabuierungstendenzen die vielleicht gefährlichste ist jene, die das jüdische Volk heute — auch aus verständlichen Pietätsgründen über Millionen Gräbern Ermordeter — als eine einzige Herde weißer Lämmer hinstellen möchte. Dies käme auf nichts anderes als auf einen Rassismus mit umgekehrtem Vorzeichen, auf eine neue Stigmatisierung heraus. Andics macht das einzig Richtige und therapeutisch Erfolgversprechende: er zieht nicht Glacehandschuhe an, wenn er von Juden oder jüdischen Gemeinschaften spricht, er springt mit ihnen ebenso um wie mit allen anderen Völkern auch, auf die er in unserem Bezug zu sprechen kommen muß. Damit handelt er wie einer jener kraftvoll robusten Ärzte, deren Nahen allein schon die halbe Heilung bedeutet.

Sein Buch beginnt mit journalistisch blendend stilisierten Szenen über das israelische Kidnapping an

Eichmann, einem Völkerrechtsbruch par excellence, den er in seiner „knallharten“ Durchführung mit der Mussolini-Befreiung durch den österreichischen SS-Führer Skorzeny vergleicht. Und er verschweigt auch nicht die Tötung eines Mannes im Ausseerland, den ein heimlich eingeschleuster Fahndungstrupp von Israelis irrtümlich für Eichmann hielt, also ermordete. Sonderbar: gerade mit dieser Einleitung, durch die den beteiligten Juden alles eher als eine Gloriole geflochten wird, gewinnt der Autor auf Anhieb das tiefste Vertrauen des Lesers, ihm bei seinen Exkursen in das historische jüdische Schicksal bis auf den heutigen Tag als einem unbestechlichen Staatsanwalt gegen das unerhört differenzierte Phänomen des Antisemitismus als Freund und Kampfgenosse zu folgen.

Andics spricht auch von der antisemitischen Welle, die die USA durchlief, als die jüdischen Emigranten Harry Gold, David Green-glass und das Ehepaar Rosenberg in Zusammenarbeit mit Klaus Fuchs, dem Sohn eines protestantischen Pastors aus Deutschland, in ihrer Rolle als Kommunisten wichtigste Atomgeheimnisse an die Sowjetunion weitergegeben hatten, die es dem Kreml ermöglichten, seine erste Atombombe anderthalb Jahre früher als geplant zu zünden. Doch gerade derlei Negativa, offen ausgesprochen, sind heute eine Voraussetzung dafür, den Antisemitismus befreiend vorurteilslos zu erörtern. Und dies wieder ist nur dann sinnvoll, wenn die Frage von den frühest erfaßbaren historischen Quellen her aufgerollt wird.

Daß die Wurzeln der ältesten Judengegnerschaft religiöser Natur waren, wie zahlreiche andere Gegnerschaften in der Weltgeschichte auch, ist bekannt genug Durch welche Verkettungen diffizilster Art daraus jedoch ein Antisemitismus mit Verfemungen und Pogromen werden konnte — diesen Linien geht der Autor unbarmherzig nach, gleich, wer sein Teil dazu beitrug: Christen, Feudalherren, Zünfte, Juden selbst, Sektierer oder totalitäre Systeme. Stein an Stein fügt sich zu einem beklemmenden Mosaik, dem zwei Hauptaussagen Gültigkeit geben. Einmal, daß sich die Juden, wo sie in den letzten zwei Jahrtausenden als Minoritäten in der Diaspora lebten, genauso verhielten, wie jede andere bedrängte, jedoch als Gemeinschaft intakte Minorität auch, indem sie auf jede

Weise zu überdauern und Freiheit und Gleichberechtigung zu erlangen suchten. Zum zweiten, daß eine aufgeklärte Menschheit das Schandmal des Antisemitismus nicht als verhängtes Schicksal abergläubisch hinnehmen darf, sondern, Fakten und Verantwortungen sichtend, sich aus der Opferrolle gegenüber dieser Psychopathologie zu befreien hat.

Einzelheiten der Zusammenschau herauszulösen hieße, sie simplifizieren, und hat deshalb zu unterbleiben. Eine Ausnahme sei gestattet, da sie den gravierendsten Punkt berührt: den jüdischen Monotheismus. Daß die Juden ihrem Väterglauben unter unerhörten Bedrängnissen durch andersdenkende Völker die Treue hielten, daß diese kostbare, heroische Tugend, deren ganze Größe wir vielleicht erst heute recht abzuschätzen wissen, zum Quell des über sie hereingebrochenen Unheils wurde, ja unter den jeweiligen Verhältnissen infolge kollektivpsychologischer Mechanismen, die überall auf der Welt (gegebenenfalls in umgekehrter Rolle selbstredend auch unter den Juden) gelten, zum Unheilsquell werden mußten, ist eine Völkertragödie, die ihresgleichen nicht hat.

Das Werk von James Parkes, einem anglikanischen Geistlichen, der sich seit Jahrzehnten mit dem Thema befaßt, behandelt die frühen Verhältnisse nur am Rande und setzt mit dem Hauptteil der Darlegungen im vorigen Jahrhundert ein, hier aber mit besonderer Akribie. Zu den fesselndsten Kapiteln gehören die Schilderungen der Verhältnisse im zaristischen Rußland und in der Sowjetunion sowie die geradezu unglaubliche Entstehungsgeschichte jener Fälschung, die unter dem Titel „Die Protokolle der Weisen von Zion“ zu schauriger Wirksamkeit kam, obwohl längst klargelegt war, daß es sich dabei um ein zielgerecht variiertes Pamphlet gegen Napoleon handelte, dem stümperhafterweise ganze Absätze wörtlich entnommen und auf die Juden übertragen worden waren.

Ein Grund dafür, daß solche kommentierende Historiographien des Antisemitismus erst zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des NS-Terrors erscheinen, mag darin liegen, daß man vorher gefürchtet hatte, Betrachtungen dieser Erscheinung in anderen Zeiten und unter anderen Völkern könnten dazu beitragen, die unermeßliche Blutschuld des Nationalsozialismus zu relativieren. Das war, wie sich erweist, ein Trugschluß. Was in anderen Zonen und Jahrhunderten geschah, zumeist in Form von Massenpsychosen und Kurzschlußreaktionen, dann und wann zu bestimmten Zwecken, wie in Rußland, auch i lit einiger Perfidie gesteuert, entschuldigt das Vorgehen der Nationalsozialisten nicht im geringsten, sobald man sich vor Augen hält, daß sie es fertigbrachten, Affekte in ein amtliches, von einer ganzen Führungsschicht sanktioniertes Mordsystem umzugießen und hunderttausende Deutsche zu dessen mehr oder minder willigen Handlangern einzusetzen. Dies, ein synchrones Wirker von Partei-, Staatsund Wehrmachtsinstanzen zur widerlich feigen Ermordung von Millionen Wehrloser, gab es nie zuvor und wird es wohl nie wieder geben.

Die beiden Neuerscheinungen ergänzen einander bei gelegentlichen Überschneidungen vortrefflich, und wer noch Thiemes Buch dazunimmt, ist bestens gerüstet, dem Antisemitismus, der immer noch das Antlitz der Menschheit befleckt, entgegenzutreten — in seiner Umgebung und vielleicht auch in diesem oder jenem verborgenen Herzenswinkel seiner selbst.

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