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Antwort, Österreich betreffend

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Eines der Grundgesetze des Daseins ist das der Begegnung, sagt Jakob Wassermann einmal. Mir kann Österreich nicht begegnen, denn es umgibt mich, mit einer leichten Schwellung des Horizonts, so daß ich mich diesem gegenüber etwas eingesunken fühle. Ein knietiefer Österreicher (kein knieweicher, möchte ich mir erlauben, zu bemerken). Österreich also könnte mir nicht begegnen. Dafür begegnete mir der Schriftsteller Walter von Cube.

Nach dem ersten Schmecken seiner Prosa, ihrer Kadenzierung, ihres sehr gelassenen Duktus, dort, wo sie sich wendet, um den Gegenstand von einer anderen Seite anzugehen, lag es mir fast nahe, meinen Autor innerlich zum Österreicher zu ernennen.

Quadrillierung des seelischen Unterfutters?

Diese Nationalität ist von allen die am wenigsten materielle. Sie ist ein Zustand, ein goldener Schnitt nur zwischen Distanzen und Kräften, aus dem man fallen kann, wenn man eine ungeschickte Bewegung macht; und in den man geraten kann, komme man gleich aus Pernambuco, wenn's einen trifft, wenn einen dieses Spannungsfeld festhält. Es kann adoptieren und entlassen. Zum Österreicher müßt man wirklich fallweise und einzel-iveise ernannt werden. Allen Debatten um die österreichische Nationalität schaut der Materialismus durchs dünne Gewebe, als die wahre Quadrillierung des seelischen ÜnterfUtters (um mit Nestroy zu reden), aus dem solche Erörterungen kommen. Ein situationsbewußter Österreicher jedoch mufi heute um jeden einzelnen kroatischen oder madjarischen Bauern im Burgenland, um jeden Slowenen in Süd-kärnten herzlich froh sein: dies aber ganz und gar nicht, um in solcher Volksteilen eine Art Sprungbrett für irgendwelche Aspirationen zu sehen, sondern weil gerade durch jene Mitbürger seinem übernationalen Nationalgefühl ein vertretungsweiser konkreter Anhalt geboten wird. Das klingt paradox. Aber es gibt

Paradoxien im erfahrbaren Leben, die man erst versteht, wenn man gewillt ist, sie auszuhalten, nicht sie aufzulösen.

Österreich: kein selbständiges Bayern

In dieser Gegend etwa trennte sich mein Autor Walter von Cube vom früher erwähnten goldenen Schnitt. Er wurde materiell und begann, in ethnischen, statt in morphologischen, also historischen Einheiten zu denken, und sah bald die Österreicher als eine Art weit hinaus verschlagener und eben darum selbständig gewordener Bayern, wie etwa die Schweizer als aus dem gleichen Grund selbständig gewordene Alemannen, so daß sich ihm schließlich das Bild geteilter Völker ergab, von denen ein Stück im Reichskörper verblieb, ein anderes Stück weit draußen die staatliche Selbständigkeit erlangt hatte. Und bei den Österreichern wiederum erschien ihm der ständige Zufluß aus den nicht deutsch sprechenden Ländern der alten Monarchie als Bedingnis ihrer eigentlichen österreichischen Existenz.

Zugegeben hat er immer schon, daß es verschiedene deutsche Nationen gibt. Und so verhält es sich in der Tat. Wir sind hierin nicht ärmer als die Angelsachsen. Vielmehr war der deutschsprachige Raum begabt genug, um sehr verschiedene nationale Einheiten hervorzubringen, wogegen die Angelsachsen trennender Weltmeere bedurften, um sich überhaupt von einander abzusetzen. Derartiges ist einfach eine Frage der Begabung. Die deutschen Nationen sind hierin durchaus den Griechen ähnlich, die auf kleinstem Raum die heterogensten nationalen Gebilde hervorzubringen fähig waren. Die Entfernung von Athen nach Sparta ist heute fast geringfügig. Diese geringe Erstreckung genügte jedoch dem eminent schöpferischen griechischen Geist zur Erstellung höchst verschiedener Gestalten nationalen Lebens. Im modernen Material ausgedrückt: von München nach Augsburg fährt man keine fünfzig Minuten; aber draußen ist man aus dem eigentlichen Bayern; bei einem anderen Volk, das im Grundton eine andere Sprache spricht. In Griechenland und in Deutschland mußten diese Maßverhältnisse zur Tragik führen. Hier gab es freilich auch unerfüllte Begabungen der Nationswerdung.

Von den im Reichskörper verbliebenen Bayern, die also nicht im Osten kolonisierend die materiellen Fundamente einer neuen Nation legten, läßt sich das am allerwenigsten sagen. Ihre Nationswerdung ist längst vollzogen und aller Welt unleugbar vor Augen. Und vielleicht gelang das nicht nur in Absetzung vom Raum preußischer

Hegemonie, sondern ebenso sehr von Österreich. Dies ist ein Fall, wo uns mundartliche Analogien nicht täuschen dürfen. Und wenn auch die liebenswürdigste, gemütlichste und kulanteste Grenze in ganz Europa die zwischen Bayern und Österreich zu sein scheint, so weiß doch jeder auf beiden Seiten distinkt und präsent in jedem Augenblick um den nationalen Unterschied.

Der politische Unterschied aber besteht vor allem darin, daß die Bayern in Deutschland gewaltig mitreden, die Österreicher aber schon lange nicht mehr.

So halten wir denn die staatliche Autonomie Bayerns nicht für eine solche von nur formeller Bedeutung.

Seit dem 8. Jahrhundert n. Chr. ist einiges geschehen

So wenig wie die staatliche Selbständigkeit Österreichs. Es handelt sich hier keineswegs um einen nördlichen und südlichen, westlichen und östlichen Teil derselben nationalen Einheit, die da nur in verschiedenen politischen Aggregatzuständen sich befinde. Denn seitdem Bayern sich im achten und neunten Jahfhundert kolonisierend in den Osten erstreckte, ist einiges geschehen, sogar Entscheidendes, wenn auch viel später. Eine neue Seinsform schoß zu Kristall, welche in der vielgepriesenen Barocke nur ihren Abschluß fand. Wie immer: ein chymischer Prozeß war abgeschlossen. Er hatte im frühen sechzehnten Jahrhundert grausenhaft und schmerzhaft genug angehoben, als mit dem Beginn des spanischen Regimes der erste Ferdinand diejenigen Köpfe fallen und in den Sand rollen machte, darin die landständischen Vorstellungen des Mittelalters ein unzeitgemäßes Weiterleben führten, so unzeitgemäß wie die gotische Kanzel von St. Stephan, die man eineinhalb Jahrzehnt später noch vollendete.

Kräften umliegender Länder bereits derart angereichert, daß ein äußerster Grad von Sättigung entstanden war und eine chemische Verbindung, welche weitere Moleküle in sich aufzunehmen nicht mehr fähig gewesen wäre. Zudem — und gerade dies wird am häufigsten vergessen - war es vordem durch lange und längste Zeit eine gesicherte römische Provinz (Ober-und Unterpanonien verbunden, also Niederösterreich und Westungarn), dem Mittelmeer zugewandt und der antiken Welt. Es ist höchst bezeichnend, daß Marcus Aurelius Antoninus hier in Wien nach dem Marcomannen-

Feldzug lebte, schrieb und gestorben ist (183 nach Christus). Wien wurde späterhin so etwas wie eine anachronistische Polis und Österreich ein Stadt-Staat, in seiner Polis ganz enthalten. An dieser Struktur ändert der schwankende Umfang umliegender Ländermassen so gut wie nichts. Athen ist Athen geblieben, als es in nachalexandrischer Zeit sein großes Inselreich längst verloren hatte und auf Attika beschränkt blieb. Einem Blick, der von politischen Strukturen und von Staatsformen sich nicht allzusehr einengen läßt, bleibt die Identität des alten Österreich mit dem heutigen ohne weiteres erkennbar. Auch Walter von Cube mag derartiges gefühlt haben; seine Wiener Eindrücke spiegeln es wider. Und in der Tat ist Österreich und ist die Stadt heute der Zeit vor 1914 um ein Unendliches näher als etwa 1925, wo man immer noch wegen des Zerfalls mit seiner Geschichte in einem bösen Gewissen stand.

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