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Digital In Arbeit

Arbeitenfür das süße Nichtstun?

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Über Faulheit als Pendant zu Fleiß und Arbeit nachzudenken ist in Zeiten wie diesen wohl kein Müßiggang.

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Über Faulheit als Pendant zu Fleiß und Arbeit nachzudenken ist in Zeiten wie diesen wohl kein Müßiggang.

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Einst kam ein Reisender nach Neapel und sah dort zwölf Bettler in der Sonne liegen. Dem Faulsten, rief er ihnen zu, wolle er eine Münze schenken. Elfe sprangen auf mit ausgestreckten Händen. Der Reisende aber gab sie dem zwölften, der liegengeblieben war.“ Diese Anekdote, die uns aus dem 19. Jahrhundert überliefert ist, versammelt alle Klischees über die Faulheit: Da ist das dolce far niente, das die Bewohner des europäischen Nordens gerne den Südländern zuschreiben, da ist aber auch die List des Faulen, die schließlich der Moral zum Trotz auch noch belohnt wird. Von solch eulenspie- gelhaft verspielten Faulen erzählt die Literatur gerne, und wer träumte nicht davon, es ihnen gleichzutun und absichtslos in der Sonne zu liegen? Grund genug also, mit Lessing das Lob der Faulheit anzustimmen?

Faulheit, jetzo will ich dir / Auch ein kleines Loblied bringen. — / O ... wie ... sau ... er wird es mir, / Dich ... nach Würden ... zu besingen! / Doch ich will mein Bestes thun, / Nach der Arbeit ist gut ruhn.

Höchstes Gut! wer dich nur hat, / Dessen ungestörtes Leben — / Ach! ... ich ... gähn’ ... ich ... werde matt ... / Nun ... so ... magst du ... mir’s vergeben, / Daß ich dich nicht singen kann; / Du verhinderst mich ja dran.

Der Faule, dessen Lob Lessing hier anzustimmen letztlich doch zu faul ist, gilt allgemein als Unperson. Noch das jüngste Charakterbild von Gert Mattenklott weist ihn schlicht- weg als widerwärtig aus: faul, ja stinkend faul, das heißt: umgeben vom Geruch moralischer Verwesung. Der Faule ist, kurz gesagt, eine Provokation! Gewiß, daß einer nichts tut, wenn andere im Schweiße ihres Angesichts arbeiten, ist ärgerlich. Aber nicht allen Nichtstuern begegnet die bürgerliche Gesellschaft mit dem gleichen Widerwillen: nicht den Rentnern, gleich welcher Klasse und Größenordnung, den Kindern nicht und nicht den Alten, ja sogar nicht generell dem Müßiggänger. Immer waren Faulheit und Müßiggang in Verbindung mit ihrem Gegenteil, das heißt mit Fleiß, Strebsamkeit und Pflichterfüllung in hohem Grade gesellschaftliche, ökonomische und politische Themen.

VOM ÜBERMASS AN FREIZEIT

„Es ist kaum mehr als dreißig Jahre her, daß es durchaus üblich war, Todesanzeigen oder Grabsteine mit dem Satz zu schmücken: ,Müh und Arbeit war sein Leben, Ruhe hat er nie gekannt“, und einer älteren Generation ist noch der Moralspruch ,Müßiggang ist aller Laster Anfang1 nur zu gut vertraut. Es war einmal, daß man niemandem Besseres nachsagen konnte, als in rastloser Tätigkeit Erfüllung gefunden und sich in der alltäglichen Sorge um die Existenz verzehrt zu haben.“ Mit diesen Sätzen beginnt Theodor Geus eine Abhandlung, die unter dem Titel „Die Last mit der Freien Zeit“ am 10. März 1994 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erschienen ist: dies aber nicht etwa, wie man vermuten könnte, im Wirtschaftsteil, sondern ausgerechnet im Reiseblatt, das sich mit Ferien, Freizeit und Erholung beschäftigt. Das hat durchaus seine tiefere Bedeutung. Geus erklärt nämlich einen folgenreichen Sachverhalt, wenn er schreibt: In geradezu dramatischen Schritten ist der zur Sicherung des Überlebens - und weit darüber hinaus zur Sicherung des Wohllebens - notwendige Arbeitsaufwand gesunken. Wie niemals zuvor verfügt heute der Mensch - zumindest in der privilegierten Welt der Industrienationen — über eine gewaltige Menge Freizeit.

Schon macht das Bundeskanzlerwort vom „kollektiven Freizeitpark“ die Runde, schon beschäftigen sich nicht mehr nur die Ökonomen und die Soziologen mit diesem Phänomen, sondern in zunehmendem Maße auch die Psychologen. Und dies vor allem deshalb, weil den Menschen offenbar die Freizeit zum ernsten Problem geworden ist. Sie wissen nichts mehr mit ihr anzufangen. Sogenannte Animateure, Spezialisten für Halma oder Sackhüpfen, werden dafür bezahlt, die Menschen im Urlaub „sinnvoll“ zu beschäftigen. Müßiggang und Faulheit wollen offenbar gelernt sein und sind gar nicht so leicht zu leben, wie dies auf den ersten Blick angenommen werden könnte.

In heutigen Zeiten deshalb ein Loblied auf die Faulheit anzustimmen, könnte angesichts von Zigmillionen Arbeitslosen in Europa und unfreiwillig in den Vorruhestand Versetzten nur noch als blanker Zynismus verstanden werden. Was täglich wächst, ist die Zahl derer, die gerne einmal einen blauen Montag einlegen und den Müßiggang pflegen würden, wenn, ja wenn sie nicht zu einem Müßiggang verurteilt wären, der sie ernsthaft in ihrer Existenz bedroht. Wie konnte es zu einer derartigen Entwicklung kommen?

Vor gut zehn Jahren, 1983, veröffentlichte „Der Spiegel“ eine Studie, aus der hervorging, daß immer weniger Deutsche Freude in ihrer Arbeit haben und einstmals hochgelobte Tugenden wie Fleiß und Disziplin enorm an Ansehen verloren haben. Nach dem Motto „Ich lebe nicht, um zu arbeiten, sondern ich arbeite, um zu leben“ wird Arbeit dabei als Ursache zur Minderung der Lebensqualität angesehen. Während der Schlager der Saison dazu aufrief, wieder in die Hände zu spucken und das Bruttosozialprodukt zu steigern, hieß es im „Spiegel“: „Die Deutschen, seit Generationen in aller Welt als arbeitswütig und allzu gründlich belächelt, betreiben nun auch das Dolcefarniente, das süße Nichtstun, mit Hingabe. In keinem der untersuchten Länder (Schweden, Großbritannien, USA, Israel), so fanden Sozialforscher heraus, „ist die Arbeitsmoral so niedrig wie in der Bundesrepublik.“ Immer mehr Freizeit freilich hat einen hohen Preis. Sie ist nicht nur teuer erkauft, sondern wird zum stetig wachsenden Problem: und dies nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Theodor Geus sagt dazu: „Seit die Menge der Untätigkeit so groß geworden ist, beginnt man sie mehr und mehr als Zivilisationsschicksal zu begreifen, das den Menschen vor neue Heraus-forderungen stellt. Erst werden Soziologen und Psychologen bemüht, um Diagnosen für ein Ereignis zu stellen, auf das viele gesellschaftliche Kräfte hingearbeitet haben und das nun, da das Ziel erreicht ist, eher als Bedrängnis denn als Befreiung begriffen wird.“

FREIHEIT DURCH FREIZEIT?

Dabei sprechen doch alle Anzeichen gegen eine solch pessimistische Einschätzung. Die Autobahnen sind überfüllt, die Blechlawinen rollen Wochenende für Wochenende, die Reisebranche boomt. Die Welttourismus-Organisation rechnet bis zum Jahr 2010 mit einer Milliarde Touristen. Schon jetzt erwirtschaftet der Tourismus sechs Prozent des Bruttosozialprodukts der Erde mit einem Umsatz von 42 Billionen Schilling. Die Welt scheint in einer großen Freizeitbewegung begriffen. Ist aber mit dieser Freizeit tatsächlich eine neue Freiheit erreicht worden?

Theodor Geus widerspricht dem energisch: „Eine Analyse der Verhaltensmuster ... zeigt eine so ausgeprägte Tendenz zur Passivität, ... Der Grund für solche Passivität mag einerseits von der enttäuschenden Erkenntnis herrühren, daß sich Freizeit nicht automatisch mit Inhalten füllt, sondern besonderer, bisher nicht ausreichend trainierter Initiative bedarf. Andererseits sind längst standardisierte Angebote entwickelt

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