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Archäologie oder die Faszination des Toten

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Hat der nicht mehr junge Mann, der mit einem Strick vom Leben zum Tode befördert und im Moor von Tollund im heutigen Dänemark versenkt wurde, etwas ausgefressen? Oder wurde er rituell geopfert? Wir werden es nie erfahren. Wie ja überhaupt Europas Vojge-schichte ein Puzzle ist, von dem mehr Teile fehlen als vorhanden sind.

Den Toten aus dem Sumpf ist nur ein Kapitel des Ruches „Faszination Archäologie” (Herausgeber: Paul G. Bahn) sowie das Bild des „Tollund-Mannes” auf dem Einband gewidmet. Aber von den Toten aus dem Moor geht besondere Faszination aus. Was einerseits mit ihrem oft hervorragenden Erhaltungszustand zu tun hat. Dank der Moorleichen besitzen wir Kenntnis und nicht bloß Vermutungen vom Aussehen der prähistorischen Europäer.

Zugleich steigert das Bätsei um die näheren Umstände ihres Todes die Faszination. 1 )aß sie wegen eines Verbrechens hingerichtet wurden, ist eine Möglichkeit, aber oft nicht die wahrscheinlichste, denn bei vielen dieser Toten dürfte es sich um Angehörige der Oberschicht gehandelt I haben. Ihre gepflegten, von Schwielen freien 1 lande deuten darauf hin. Auch wurden nicht nur Leichen, sondern auch wertvolle Gefäße und andere Gegenstände im Moor versenkt. In Gundestrup, ebenfalls in Dänemark, barg man aus dem Moor unweit der Leichen zweier Frauen und eines Mannes die Reste eines reich verzierten, aus Südeuropa stammenden silbernen Kessels.

Das Buch behandelt wohltuend knapp „die hundert bedeutendsten Funde der Welt”, von Pompeji bis zur 1974 ausgegrabenen, 7.000 Mann starken, lebensgroßen Terrakotta-Armee im Grab des ersten Kaisers von China, von der Höhlenmalerei der Altsteinzeit bis zum Ötzi, vom Pekingmenschen bis zur Osterinsel. Die Beschreibung des Palastes von Knos-sos läßt uns ein weiteres Mal darüber im Unklaren, warum die Behauptung des Geologie-Ordinarius Rainer Wunderlich, der angebliche Palast könne kein Palast, sondern nur eine Totenstadt gewesen sein, falsch sein muß. Es habe darin „elegante, mit Gips gepflasterte” Wohnräume gegeben, lesen wir andächtig. Daß Stufen oder Böden aus dem weichen Gips in bewohnten Räumen in kürzester Zeit völlig abgetreten wären, war nur eines der Argumente des toten und totgeschwiegenen Störenfrieds.

„Faszination Archäologie” ist eine von zwei Neuerscheinungen zum Thema. Während Ägypten hier nur ein wichtiges unter mehreren Themen ist, widmete Renate Germer ihr Buch „Das Geheimnis der Mumien -Ewiges Leben am Nil” nicht der Ägyptologie schlechthin, sondern jenem-Teilaspekt, der, ähnlich wie die Moorleichen, viele fasziniert, nämlich den Mumien. Beide Bücher sind empfehlenswert, durchgehend reich illustriert, und zwar zum Großteil in'Farbe, und ergänzen.einander. An beiden haben jeweils mehrere Fachleute als Autoren mitgewirkt.

Die ägyptischen Mumien sind auch insofern ein dankbares Thema, als durch moderne Untersuchungstechniken große Fortschritte möglich waren, die hier zu einem umfassenden Uberblick zusammengefaßt werden. Doch beschränkt sich die Darstellung nicht nur auf die Mumienforschung, sondern bezieht auch die frühe Rezeption der Mumienfunde in Europa ein. Die aber ist ein zu kritischen Gedanken über unsere eigene Vergangenheit anregendes Kapitel der Kulturgeschichte.

„Mumien sind Handelsware geworden, Mizraim heilt Wunden, und Pharao wird als Salbe verkauft”, schrieb der 1605 geborene englische Philosoph Thomas Brown. Während die Kirche in Europa die Einbalsamierung heilig gesprochener Personen oder hoher Würdenträger zuließ, bei allen anderen aber als Ausdruck sündiger Eitelkeit verbot, galten die aus den Körperhöhlen ägyptischer Mumien herausgekratzten Balsamierungssubstanzen seit dem frühen Mittelalter als Heilmittel. Später wurden einfach die Mumien zer-mahlen und als Medizin eingenommen. Noch später, im Zuge der „Agyptomania” nach Napoleons Ägypten-Feldzug, erfanden aufgeklärte Europäer ein neues Gesellschaftsspiel: Mumien Auswickeln. Junge Adelige brachten im 19. Jahrhundert gern einen Sarg mit Mumie von ihrer Bildungsreise mit, luden Freunde zu einem guten Abendessen und wickelten dann, als Höhepunkt des Abends, die Mumie aus. Falls es eine war. Die ersten Mu-1 mienfälschungen kamen 1771 auf den Markt. Selbstverständlich hat die Untersuchung von Mumien das Wissen über Lebensweise, Lebenserwartung und Krankheiten der alten Ägypter ungemein erweitert. Die Zähne waren meist in katastrophalem Zustand -auch bei den Mitgliedern der königlichen Familie. Antikörper, mit denen ein Bilharziose-Befall festgestellt werden kann, lassen sich anhand weniger Gramm Körpergewebe noch heute nachweisen. Ebenso Malaria, aber auch Läuse und deren Eier in den Mumienkämmen. Da Läuse allgegenwärtig waren und unter anderem Fleckfieber übertrugen, hatte es gute Gründe, daß die Mitglieder der ägyptischen Oberschicht ihre Köpfe rasierten und Perücken trugen.

Die Computertomographie machte es möglich, den Schädel einer Mumie, ohne die Binden anzutasten, so zu vermessen, daß man mit Hilfe moderner kriminalistischer Methoden die Gesichtszüge rekonstruieren kann. Mittlerweile gibt es sogar Computerprogramme zum virtuellen Auswickeln virtueller Mumien per Internet. Das Gesellschaftsspiel Mumien Auswickeln wurde also sehr verfeinert. Ebenso wie der Tod, dem wir fast nur noch im Fernsehen begegnen.

Noch 1924 (!) führte eine angesehene deutsche Pharmafirma „Mumia vera Aegyptica”, echte ägyptische Mumie, in ihrem Katalog, das Kilo zu zwölf Goldmark. Zwar wurde bereits 1896, ein Jahr nach der Entdeckung der Böntgenstrahlen, eine Kindermumie durchleuchtet, doch noch lange wurde meistens ausgewickelt. Die zerstörungsfreie Untersuchung setzte sich nur langsam durch. Immerhin ging man endlich sorgfältig vor. Noch 1886 hatte man die Mumie Bamses II. in 15 Minuten aus ihren Binden geschnitten. Heute ist die Bestaurierung und Konservierung einer Mumien-kartonage, des kunstvoll bemalten und vergoldeten Totenbildnisses, ein Projekt mehrerer Monate.

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