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Armes Budapest

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„WO HÖRT DIESES UNGARN AUF, das wir nicht mehr tragen konnten und aus dem wir flohen? Wo fängt das andere an?“

Der Korridor, durch den sie gehen müssen, wenn sie aus dem Zimmer kommen, in dem sie vierzehn Monate lebten, hat kein Ende. Der Kasernenhof — ein Cordon sanitaire zwischen dem Lager und „draußen“ aus Kot und fluoreszierenden Oellacken. Das Kasernentor, bewacht von Gendarmen und Ungarn in Zivil, die Armbinden tragen und sich abwenden. — „Deserteure, die heute in die Heimat zurückfliehen.“ Wie können die Wachen wissen, daß die vier mit den Pappeldeckelkoffern in den Händen dieses Ungarn nie verlassen haben, in das sie jetzt heimkehren.

Es bleibt mit ihnen. Durch die Stadt, die lange Fahrt in der Straßenbahn, das Warten auf dem kalten Perron im Wiener Ostbahnhof — Grenze — Budapest-Westbahnhof — sechs Uhr. Der Weg durch die Straßen von Budapest — wann sah man sie zum letzten Mal, als die Fahnen der Revolution aufgepflanzt waren, oder als die russischen Panzer schon auf der Schmierseife Schlittschuh liefen und dann in die Häuser bollerten? — der Empfang im Büro des „Weltbundes der Ungarn“, der die Fürsorgestelle für die Wiederkehrer ist. Das Büro ist im Außenministerium untergebracht, hinter den Schreibtischen sitzen „Funktionäre“ und fragen . .. Dann das Suchen nach einem Zimmer — an Vorhänge hatte man sich in Wien gewöhnt gehabt, und es fällt auf, daß sie hier fehlen und die Fenster wie hohle Augen sind.

WO IST DIESES UNGARN NICHT? Wo trug man es nicht in sich auf diesem Weg, der 14 Monate dauerte, der erst über die Grenze in den „goldenen Westen“ und dann zurück in das Vaterland der Resignation führte? Aber hier höst es auf, dieses Ungarn, dem man entfliehen wollte — plötzlich, im Herzen, das „armes Budapest“ schreit und vor Freude hüpft.

Unter einem Straßenschild sitzt ein Bettler. Es sollte ihn nicht geben im kommunistischen Ungarn. Er ist geblieben der Bettler — wie vieles in dieser Stadt geblieben ist und in der Farbe des neuen Budapest versinkt, die heute grau ist. Ein Grau ohne die bunten Autos des westlichen Wirtschaftswunders, ein Grau der ersten Nachkriegsmode Wien 1947. Das Grau ist heute 13 Jahre alt, und die Farbe liegt nicht mehr wie ein Tuch über der Stadt, das einmal abgenommen wird, sondern wie eine dicke Eisenplatte, die für die Ewigkeit bestimmt zu sein scheint. Darunter sind die Farben erloschen, die man einst meinte, wenn man „Budapest“ sagte.

Es gibt Frauen, deren Schönheit man auch noch unter den alten dicken Mänteln erkennt, die sie gegen den Schneesturm tragen, und sie scheinen sich noch an das zu erinnern, was man früher von den Augen der Budapesterinnen erwartete. Aber es gelingt nicht mehr. Ihre Blicke bleiben im zähen Grau hängen wie Tennisbälle im Netz.

Doch auch das stimmt nicht ganz und nicht überall. Da und dort wird das Grau der Stadt zerrissen. — Auf den Sportplätzen, die die Stadt wie ein Wald- und Wiesengürtel umgeben. Im Hinterhofzimmer einer Frau, die schwanger aus der Emigration zurückgekommen war und sagt: „Ja, es wäre sicher dort leichter gewesen. Aber es muß hier zur Welt kommen. Hier muß es bestehen, wie die Stadt bestehen muß. Ich habe meinen Mann im Ausland zurückgelassen, der nicht kommen wollte, so wichtig war mir, daß mein KV.' Iii Ungarn aufwächst.“

TREFFPUNKT RAKOCZI-UT. 48 Stunden, nachdem man zusammen das Cafe „Raimund“ verlassen hatte. Lajos G. trägt die Lagerkleider aus Wien, und sie fallen hier nicht auf. Aber er trägt eine Aktentasche, die er vor seiner Abfahrt gekauft hat, und sie leuchtet im Budapester Straßenbild wie eine Lichtreklame für Moulin Rouge.

Lajos hat sich verändert in diesen 48 Stunden. Wenn er im Cafe „Raimund“ norh nicht genau wußte, ob er nach Hause fahren sollte und was ihn zu Hause erwartete, jetzt ist er zu Hause und hier, was immer vor ihm liegt.

„Ich sagte, ich wollte zu meiner kranken Mutter. Ich sagte es vor dem ungarischen Beamten im Collegium Hungaricum und vor mir selbst. Meine Mutter ist auch krank, und sie braucht mich. Aber jetzt sehe ich, daß es das kranke Budapest war, zu dem ich zurückwollte, und ich halte die Hand, die knochig ist und dünn, und ich fühle den Pulsschlag, der viel schwächer ist als der Pulsschlag der Städte im Westen — und ich kann, mich vor Freude nicht fassen. Auch wenn mir manchmal Angst und Sorge die Kehle zuzuschnüren drohen, seit ich den ersten Mann in Uniform mit dem roten Stern auf der Kappe sah.“

Lajos D. - 48 Stunden nach dem Cafe „Raimund“, 235 km vom Stephansplatz entfernt. 173 km hinter der Grenze, über die er im November 1956 mit der großen Welle geschwemmt wurde. 173 km hinter der Grenze, die er auf dem Weg zurück vor 24 Stunden überschritt — mit dem bitteren Geschmack der Endgültigkeit im Mund.

Da war die Fahrt vom Wiener Ostbahnhof zur Grenze. Und schon war die Angst im Waggon. Im Coupe saß einer, der aus Frankreic kam und der für meinen Geschmack zuviel vom Elend unter den französischen Arbeitern und vom Schrecken der Fremdenlegion sprach. Es war zu deutlich, daß er etwas gutmachen wollte und damit schon während der Fahrt begann, vielleicht bei mir. Als ich den ersten ungarischen Grenzer sah, begann mein Herz vor Angst wie rasend zu schlagen, aber er war höflich, und der Mann aus der Fremdenlegion stieg vor Budapest aus. Neue Passagiere kamen, und ich hatte den Eindruck des normalen Lebens. Eines etwas beengten normalen Lebens, aber die russischen Panzer sind wieder nicht zu sehen, und von der AVO merkte man nichts.

Es ist aber doch noch so, daß man zusammenschrickt, wenn morgens an die Wohnungstür geklopft wird (die Klingeln funktionieren meistens nicht), wenn man denselben Mann zu lange Zeit hinter sich gehen fühlt, wenn abends ein Auto vor dem Haus steht, in dem man wohnt.

Aber es ist doch s c h o n so, daß man über die Angst lächeln kann und sogar Witze machen, wenn sie Sich als grundlos erw;c;en hat. LTnd nicht den ganzen Tag weiß, sie ist nur auf morgen früh verschoben.

Wir gingen die breiten Straßen entlang. Es gibt viele Kaufhäuser, aber sie sind dunkel und wie Gewölbe. Viele Stoffe, die man wie alles andere frei kaufen lcann, und sie sind nicht teurer als in Wien, nur sehr schlechter Qualität. Aber Lajos befühlt sie und sagt: „Man kann kaufen.“ Das ist sichtlich neu und war nicht, bevor er Budapest verließ. Es gibt Geschirr, Koffer, Textilien, alles wie in einem Wiener Ramschladen und doch faszinierend für den Mann, der vor 48 Stunden durch die Kärntner Straße gegangen war und die hellen Auslagen von Ele-gance und Stone & Blyth nicht beachtet hatte. „Man kann kaufen“, sagte er immer wieder.

Tatsächlich, in ganz Budapest kann man kaufen und es ist neu und rar dieses Gefühl, wie es bei uns 1948 und 1949 war und ein helles Vergnügen.

„Wir wurden gut empfangen. Zwar nicht mit Ehrenjungfern und Girlanden, aber immerhin ohne' AVO und Schikanen. Die Kinder hatten zuerst das Gefühl, daß sie von einem hellen Spielplatz in einen Hinterhof gebracht worden waren. Aber sie gewöhnten sich rasch an den Hinterhof, als sie merkten, daß die anderen Kinder um sie wiederum ungarisch sprachen. In meiner Wohnung wohnen andere, und die haben auch meine Möbel. Ich werde nichts davon zurückbekommen. Aber die Fürsorge hat uns ein Untermietzimmer, angewiesen, und alle unsere Verwandten sind um uns, helfen uns, die Miete zu bezahlen, und organisieren Lebensmittel für das erste Monat.“

Ich habe Arbeit gefunden. Nicht in der Fabrik, in der ich war, dort wären sie alle gegen mich gewesen. Die einen, weil ich damals flüchtete, die meisten, weil ich zurückkam. Ich war qualifizierter Textiltechniker, ich bin Hilfsarbeiter geworden. Ich verdiene 1200 Forint, auch meine Frau hat Arbeit gefunden und verdient 1000 Forint. Die Miete kostet 400, Milch 3.30 Forint, Fleisch pro Kilo 25 bis 40 Forint. Die Löhne sind um rund zehn Prozent niedriger als in Wien, die Waren um rund zehn Prozent teurer. Das macht einiges aus im täglichen Leben. Aber: in diesem Land, in dem das Eigentum abgeschafft wurde, haben wir unser Leben als vnser Eigentum wiedererkämpft. Der Kommunismus hatte auch nach unserem Leben gegriffen. Aber er hat gelernt, allerdings war unser Blut sein Lehrgeld, daß man das Leben in Ungarn vielleicht durch russische Panzer auslöschen kann, aber nicht auf die Dauer zum Staatseigentum erklären. Diese Lehre blieb vom November 1956.

EIN BÜFETT IN STAATLICHEM BESITZ: Ein •deutscher Journalist schrieb über Deutschland 1948/49 als über die Zeit der „schönen Not“. Hier ist sie', in Budapest, in diesem Büfett. Das Essen ist hier noch nicht eine alltäglich gewordene Routine, sondern Erlebnis. Man bedient sich selbst und trägt meist selten gefüllte Kalbsbrust und selten Gulasch — es heißt hier Pörkelt — zu seinem Tisch, sondern irgendein Suppenfleisch und sehr viel Milchrahmstrudel. Das Büfett ist voll, und man hat den Eindruck, die Menschen, die kaum mehr als 1200 Forint monatlich verdienen, müssen sich an diesen Portionen, die, zwischen fünf und zehn Forint kosten, um den letzten Heller essen. Aber sie tun es mit Genuß. Hinter den Serviertischen Stehen Frauen, denen man ansieht, daß sie aus den „feindlichen Klassen“ stammen. Zwei von ihnen waren noch vor drei Monaten in Wien gewesen — und trotzdem zurückgekehrt. Zu den 900 Forint, die sie verdienen, zum Serviertisch, hinter dem sie — und das ist das Ueber-raschende — nicht mit Verbitterung stehen, sondern mit einer eigenartigen Lust am Verteilen dieses Essens, das es vor einem Jahr in Budapest noch nicht gab.

Hier in diesem Büfett ist das Graue verflogen.

Ein Budapest — weit entfernt von der Eleganz des „Paris an der Donau“, aber wiedergefunden in einer neuen instinktiven Freude am kleinen Leben, wie sie stets die Ueberlebenden nationaler Katastrophen empfinden. Die kommt einstweilen noch aus den Milchrahmstrudeln und aus den dampfenden Linsen und verfließt im Grau des Straßenbildes, sobald man das Büfett verlassen hat. Aber dieser triebhafte Lebenswille dehnt und streckt sich, ist unabhängig und entzündbar wie Sprengstoff.

EINE REVOLUTION IST EIN GUTER LEHRMEISTER — sagt Lajos. Auch für die „Sieger“. Und das — „armes Budapest“ — aus dem Herzen eines Rückkehrers, der hier nichts findet als ein armseliges Zimmer und einen armseligen Posten, aber sein ungarisches Leben — ist ein Lehrspruch und ein Kampfruf zugleich. Ein Kampfruf aus Liebe, aus Mitleid, aus Freude der — man sieht es schon heute in Budapest — den blutigen November zu einem Pyrrhussieg der Gewalt maciit.

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