6789483-1970_29_09.jpg
Digital In Arbeit

Arroganz der Armut

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Wasserkopf, der sich an einem Leichnam mästet. So etwa verhält sich Kairo zu dem von ihm verwalteten Ägypten. Das Niltal bevölkerten 1950 etwas mehr als 19 Millionen, 1960 rund 26 Millionen und 1970 — bei gleichgebliebener landwirtschaftlicher Nutzfläche — mehr als 33 Millionen Menschen. Kairo hatte vor zwanzig Jahren weniger als 1,5 Millionen, vor zehn Jahren knapp 3,5 Millionen, und es hat heute mindestens 4,5 Millionen Einwohner. Hier leben also fast doppelt so viele Araber wie Juden in ganz Israel.

Die Ägypter reagieren auf ihre Metropole — sie ist die größte Stadt Afrikas — wie die Motten auf das Dicht. Kairo wächst noch rascher als die ohnehin rasend geschwind zunehmende Einwohnerzahl Ägyptens. Die Folge ist ein trotz des bislang durch keine vernünftige Planung behinderten Menschenüberschusses sich ständig verschlimmernder Ausblutungsprozeß. Der Nilstaat hat infolgedessen die gleichen Probleme wie Frankreich. Jean-Jacques Ser-van-Schreibers Apercu von Paris und der französischen Wüste paßt wie angegossen auch auf das Ägypten Gamal Abdel Nassers. Die Ursache ist hier wie dort dieselbe — das traditionelle zentralistische Regierungssystem.

Kairo, sagt man, sei eine arrogante Stadt. „El-Kahira“ („Die Siegreiche“) lautet, anspruchsvoll und übertrieben, ihr arabischer Name. „Die Siegreiche“ schmückt sich denn auch mit breiten Boulevards und immer neuen Hochhäusern. Doch das ist nur die Arroganz der Armut. Um die Ecke der Prachtstraßen lauert die Armseligkeit des Bettlerdaseins und, obwohl streng verboten, der Prostitution. Die früher mit der Zürcher Bahnhofstraße oder gar mit den Pariser Champs-Elysees vergleichbare Scharia Kasr en-Nil starrt vor Schmutz. Die Sandsteinfassaden der noch aus britischer Zeit stammenden imposanten Mietpaläste sind verdreckt und zerbröckelt. In den neuen Hochhäusern rieselt der Putz. Und durch alles mitten hindurch wälzt sich ein graubrauner Nil.

Arroganz der Armut: Die Stadt und ihre Menschen verbergen, so gut es geht, ihr Elend. In den Cafes „Groppi“ und „Lappasse“, ehedem Treffpunkte der mondänen Welt, sitzen noch immer uralte Paschas, mit geflickten Hemden, speckigen Anzügen und verblichenem roten Fez auf dem Kopf, aber mit blitzblank geputzten Schuhen. Es kann geschehen, daß man von einem einfachen Mann, vielleicht ist er unterer Beamter oder Ladenbesitzer, der nicht weiß, wovon er am nächsten Tag leben soll, grandseigneural eingeladen wird zum Masbut, dem unübertrefflichen türkischen Kaffee, grünem Tee oder auch einem Gastmahl.

Diese Stadt ist nicht arrogant. Sie absorbiert jährlich zehntausende, saugt sie auf wie ein Schwamm. Und alle leben sie irgendwie; irgendwie,so hoffen sie, wird es besser werden. Doch Kairo ist ein Moloch. Fast könnte man sich ausrechnen, wann es das ganze Land geschluckt haben wird. Schon die alten Ägypter wußten das. Früher war Kairos Namen identisch mit dem Landesnamen: „Misr“. Und wenn man sagt, New York sei nicht Amerika, Moskau nicht Rußland, London nicht England, Rom nicht Italien und Paris nicht Frankreich — Kairo ist Ägypten.

Nur in dieser Stadt enthüllt sich das Geheimnis der trotz eines dreijährigen Krieges ungeschwächten Nation. Den Massen allerdings nur das Bewußtsein ihrer Ewigkeit Sie überstanden geduldig die Pharaonen. Sie überstanden die Fremdherrschaften van den Römern bis zu den Türken und den Engländern. Sie überstanden auch, das ist ihr — freilich unartikulierter — Glaube, die Russen. Der „Rais“ („Chef“) hat einmal gestöhnt: „Was soll ich denn nur machen mit so einem Volk?“ Ja, der Nasserismus überfordert dieses so bescheidene, friedliche, demütige Volk. Von den antikolonialistischen und antiimperialistischen Kraftströmen, die drei Jahrfünfte lang von hier ausgingen, spürt man buchstäblich nichts in ihrem Zentrum, in dieser Stadt Kairo. Sie schert sich nicht um die ehrgeizigen Träume ihres gegenwärtigen Gebieters. Sie hat ihre eigenen ganz alltäglichen Träume. Und sie wächst, wächst unaufhörlich.

Wenn der Düsenriese, er macht einen weiten Umweg nach Westen wegen des Kampfgebietes und der sowjetischen Raketenstellungen, zum Landeanflug ansetzt, sieht man das mit bloßem Auge. Das Häusermeer verdrängt die Wüste.

Doch die Landung konfrontiert den Reisenden zunächst mit einer anderen Realität. In der Halle des supermodernen Flughafengebäudes sitzen sie, zusammengedrängt wie ängstliche Küken, breitflächige Gesichter die Männer, zwischen den Lippen die Papyrossi, füllige, mütterliche Figuren die Frauen, kyrillische Zeitungen oder auch, verstohlen, „Time“ und „Newsweek“ lesend, die Russen. Sie sind allgegenwärtig, mehr als einst die Briten. Die Ägypter reagieren auf sie ablehnend oder höchstens ironisch. Diese Ironie gebar den Spitznamen Kairos „Moscow-on-the-Nile“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung