Auch Schildkröten brauchen Flügel

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Franz-Joseph Huainigg bremst den Rollstuhl, hält inne und denkt über sein Leben nach. Seine Biografie ist geprägt von Abschieden und Neuanfängen. Seine Gedichte erzählen von Gott, der nimmt, aber auch gibt, von persönlichen Einschnitten und seinem Leben als Kabarettist, Politiker und Ehemann.

Definition und Spiritualität des Atmens vom lateinischen spiritus: Geist, Hauch oder Verbindung mit dem Transzendenten. Oder vom lateinischen spiro: ich atme.

Als ich diese Definition gefunden hatte, war ich ganz glücklich. Über Atmung kann ich reden, da kenne ich mich aus. Vor allem als ich vor zwei Jahren aufgrund der aufsteigenden Lähmung nicht mehr atmen konnte und mich mit einer Beatmungsmaschine anfreunden musste. Diese symbiotische Beziehung habe ich noch im Krankenhaus in folgendem Gedicht festgehalten. Eine Art Liebesgedicht:

Die Maschine

Leise schnurrt sie neben mir.

Ich atme, sie heult auf.

Ich atme aus, sie schnurrt friedlich.

Ich spreche, sie heult und zischt.

Ich rede schneller, ihr Heulen überschlägt sich.

Ich schreie, sie schreit schrill piepsend mit.

Ich halte den Atem an. Sie stößt Luft in mich hinein.

Ich beruhige mich.

Leise schnurrt sie vor sich hin.

Sie lebt durch mich und ich lebe durch sie.

Ich habe meine Biografie auf spirituelle Erfahrungen hin durchforstet. Jedes Lebenskapitel begann mit einem Abschied, der jedoch gleichzeitig einen Neubeginn darstellte. Es waren Abschiede von Körperfunktionen und Mobilität. Heute stehe ich sozusagen als „Geist“ vor Ihnen.

Erster Abschied und neuralgische Weggabelungen

Als Kind waren meine Beine

plötzlich gelähmt.

Ich weinte,

und verstand Gott und die Welt nicht mehr.

Da sprach Gott:

Ich nehme Dir die Kraft der Beine und schenke Dir die Langsamkeit.

So entdeckte ich eine neue Welt,

langsam am Boden kriechend.

Wer eine Biografie schreibt, bremst den Rollstuhl, hält inne und denkt über sein Leben nach. Es gab in meinem Leben einige entscheidende Punkte, wo mir zum Glück die richtigen Menschen begegnet sind. Ab und zu hat mir auch die Sturheit und Willensstärke – wie sie Schildkröten zugeschrieben wird – weitergeholfen.

Mit Schildkröten habe ich einiges gemeinsam: Wie sie kroch ich die ersten neun Lebensjahre am Boden herum. Betrachtete die Welt von unten und sehnte mich danach, die Höhenluft der anderen zu schnuppern. Als meine Eltern am Tag der Schuleinschreibung mit mir beim Direktor vorsprachen, konnten die mit einem am Boden kriechenden Schulkind nicht viel anfangen. Es war jedoch der Entschlossenheit meiner Eltern zu verdanken, dass ich in die normale Schule gehen konnte. Mein gesamter Lebensweg wäre in einer Behindertenschule, weitab von den Eltern, ganz anders verlaufen. Wahrscheinlich hätte auch ich das Feindbild entwickelt, das viele behinderte Menschen haben, die in Einrichtungen aufgewachsen sind: Wir, die Behinderten, und draußen die Nicht-Behinderten. Daher: Eltern stärken und Schulintegration fördern.

Zweiter Abschied und Loslösung von Eltern

Als Jugendlicher konnte ich plötzlich nicht mehr mit Krücken gehen.

Ich weinte,

und verstand Gott und die Welt nicht mehr.

Da sprach Gott:

Ich nehme Dir die Kraft in den Armen und schenke Dir dafür Witz und Ironie.

So entdeckte ich im Rollstuhl eine neue Welt

und brachte die Leute auf der Kabarettbühne zum Lachen.

Kann ich mich alleine anziehen? Erste Liebe – aber einseitig, Frage: Kann ich mich überhaupt selbst lieben?

Vielfach hört man, wenn man einmal im Rollstuhl sitzt, ist das Leben zu Ende. Wenn Sie diese Biografie lesen, werden Sie vom Gegenteil überzeugt werden. Das Leben im Rollstuhl ist ein Abenteuer! Nicht zuletzt durch die Unsicherheit der Menschen erlebt man derart viele skurrile Dinge, dass man ganze Kabarettprogramme damit füllen kann, was ich im Übrigen auch getan habe.

* Arbeitsbeginn im Ministerium: Ich bin ein Langsamer. Langsam aus meinem Auto ausgestiegen. „Langsamkeit als Beamter kein Problem.“

* Dringend auf die Toilette: „Können Sie mir helfen?“ „Nein.“ „Herst, den könn ma si do net anwischln lassen.“

* Kindermund (wie kam ich ins Kabarett? Entstehung des Programms, darf man lachen? Lesung in Südtirol, Kinder …)

Dritter Abschied und Aufbruch in die Politik

Jahre später konnte ich weder Arme noch Beine bewegen.

Ich weinte,

und verstand Gott und die Welt nicht mehr.

Da sprach Gott:

Desto weniger Du Dich bewegst, desto mehr bewegst Du.

So begann ich die Welt ein wenig zu verändern und wurde Politiker.

Anruf spät abends, Kandidatur löste heftige Diskussionen im Internet aus. (Darf man, soll man, kann man …? Entscheidend war für mich Forderung der Selbstvertretung), „Freunde“ verloren. Vieles ist gelungen: Anerkennung der Gebärdensprache, Gleichstellungsgesetz, integrative Berufsausbildung, persönliche Assistenz.

Wie würde ich die Biografie weiterschreiben?

* Dass im Parlament von der Regierung beschlossen wird, dass die Integration nach der 8. Schulstufe weitergeführt wird.

* Ich kann durch persönliche Assistenz ein selbstbestimmtes und integriertes Leben führen und meinem Beruf nachgehen. Dies ermöglicht die persönliche Assistenz am Arbeitsplatz, die es, vom Bund finanziert, österreichweit für alle Menschen mit Behinderung gibt. Durch diese Maßnahme konnten neue Jobs von behinderten Menschen mit Pflegebedarf geschaffen oder erhalten werden. Doch es gibt auch ein Leben vor und nach der Arbeit. Um in die Arbeit zu kommen, braucht man in der Früh eine Assistentin, die einem beim Waschen, Anziehen und Frühstücken hilft. Hier sind die Länder gefordert, sich mit dem Bund an einen Tisch zu setzen und eine österreichweite Regelung zu finden. Ein behinderter Mensch im Burgenland sollte die gleichen Bedingungen für persönliche Assistenz haben wie ein behinderter Mensch in Wien oder Oberösterreich. Kurz gesagt: Es braucht ein Assistenzgesetz für persönliche Assistenz in allen Lebensbereichen.

* Eugenische Indikation (was kaum jemand weiß: Bei Verdacht auf eine Behinderung kann ein Fötus über die Fristenlösung hinaus bis zur Geburt abgetrieben werden. Das ist eine Diskriminierung und Ungleichbehandlung von behinderten Menschen). Die Existenz eines behinderten Kindes kann keinen Schadensfall darstellen, wie es OGH-Urteile jedoch festlegten. Hier braucht es eine Änderung im Schadensersatzrecht.

* EU – wichtige Impulse (europäischer Sozialfonds, Equalprojekte): von Lohnzuschüssen bis zu Clearing, Arbeitsassistenz, integrativer Berufsausbildung. Daher: Weiterführung der Beschäftigungsoffensive – und Österreich muss bei der EU bleiben. Der neue Vertrag sichert erstmals soziale Grundrechte innerhalb der EU. Die Polemik dagegen ist unverständlich.

* Weiterentwicklung der Gleichstellung, Beispiel ÖBB: Wenn ich mir etwas für die Zukunft wünsche, ist das auch, dass ich nicht am Bahnhof stehe und auf meine Frage „Wann kommt der nächste Zug für mich?“ die Antwort bekomme: „Der nächste barrierefreie Zug kommt im Jahr 2014.“

Vierter Abschied und die große Liebe

Heute kann ich plötzlich nicht mehr ohne Maschine atmen.

Ich weine,

und verstehe Gott und die Welt nicht mehr.

Da schweigt Gott – noch.

In der Biografie wie auch in meinem Leben ist für Spannung gesorgt. Es gab zahlreiche lebensbedrohliche Situationen, um nicht zu sagen spirituelle Nahtoderfahrungen:

* Autounfall (Rettung: Hast das Auto gsehn, es ist wirklich ein Wunder. Arzt: Unerfreuliche Nachricht: Beine gelähmt. Ich: Nicht schon wieder!)

* Badewanne (alleine in der Wohnung mit Kopf unter Wasser. Würde ich den Griff noch erreichen?)

* Regenmantel (eingeklemmt, keine Luft mehr. Wird der Titel morgen in der Kronen Zeitung sein: Abgeordneter von Regenmantel erdrosselt?)

Liebesbeziehung zu Judit: zu Gott gebetet, dass ich die richtige Frau kennenlernen möge. Eines Tages Anruf – Gedicht für Obdachlosenzeitung – kann es auswendig, diese Frau muss ich kennenlernen. Martini im Auto. Trauer, Schwiegereltern, meine Eltern, Hochzeit, Kinder. Danach nicht mehr zu Gott gebetet – aber Gott hat die Wahl gut getroffen, mit Judit gehe ich jeden Sonntag in die Kirche.

Gesundheitseinbruch: Katheterisieren, Beatmung, Papa schläft (Problem für Katharina – Röhrle im Hals, heute: Was hat dein Papa? Handy!).

Ich lag drei Wochen im künstlichen Tiefschlaf. Judit war immer an meiner Seite. Dies war besonders wichtig, als ich aufwachte. Ich wagte es nicht, die Augen zu schließen, wollte wach bleiben, da ich Angst hatte, dann zu ersticken. Ich lebte teils in der realen Welt, teils in einer phantasierten Traumwelt. So war ich fest davon überzeugt, dass mich die Mediziner umbringen wollten. Jeden Tag hieß es bis 16 Uhr durchhalten, am Leben bleiben, denn dann kommt die Rettung – Judit. Ich weiß nicht, wie mein Leben heute aussehen würde, wenn Judit zu dieser Zeit nicht da gewesen wäre. Als ich im Krankenhaus Wochen später gelernt hatte, mit der Atemkanüle verzerrte und schlürfende erste Worte zu sprechen, diktierte ich der Assistentin folgendes Gedicht, mit dem ich heute enden möchte.

Wenn die Tage schwer auf das Herz drücken

Und in meinen dunklen Träumen

Finstere Gestalten mir nach

Meinem Leben trachten,

da schreie ich auf:

Ich möchte leben!

Leben für Dich.

Auch Schildkröten brauchen Flügel!

Von Franz-Joseph Huainigg

Ueberreuter, Wien 2008, e 21,95

Huainigg wurde 1966 in Paternion (Kärnten) geboren. Seit einer Impfung im Babyalter ist Huainigg behindert. Er studierte Germanistik und Medienpädagogik an der Universität Klagenfurt und wurde einer breiten Öffentlichkeit durch seine zahlreichen Publikationen und seine Tätigkeit als Nationalratsabgeordneter der ÖVP von 2002 bis 2008 bekannt. Bis heute ist Huainigg Behindertensprecher der ÖVP.

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