7131433-1997_26_20.jpg
Digital In Arbeit

Auf dem Sprung zur femme fatale

Werbung
Werbung
Werbung

Wäre ich ein Mann, würde ich bestimmt mit jemandem Liebe machen wie Don Juan”, schreibt die achtzehnjährige Anais Nin zwischen dem Kirchgang mit der Mutter und Kochen für die kleinen Brüder in ihr Tagebuch. Noch gilt all ihre Liebe dem abwesenden Vater, einem spanischen Pianisten und Komponisten, der die Familie verlassen hat, und der nun von der Tochter idealisiert und herbeigesehnt wird. Viele Jahre später wird Anais Nins freizügiges Leben zum Vorbild für eine ganze Hippie-Generation, und ihr Name zum Synonym für die angebliche sexuelle Befreiung der Frau.

Die nun vorliegenden frühen Tagebücher dokumentieren eine Zeit, in der Anais Nin von der späteren femme fatale noch weit entfernt ist. In Paris geboren, kann das kleine Mädchen niemals Wurzeln fassen, da die Familie den Vater bei seinen Engagements nach Havanna, Berlin und Brüssel begleitet. Als Anais elf Jahe alt ist, übersiedelt die Familie - ohne Vater -nach New York, wo es der Mutter -einer Sängerin, die ihrem Mann zuliebe die Karriere aufgegeben hat -nur mühsam gelingt, die drei Kinder ohne Unterstützung durch den Mann durchzubringen.

Das heranwachsende übersensible Mädchen beginnt Briefe an den heißgeliebten Vater zu schreiben, die sie -auf Anraten den Mutter - in ein Tagebuch einträgt. Für den schüchternen, eher kränklichen Teenager wird das Tagebuch zum wichtigsten Gesprächspartner, dem sie sich anvertraut. Täglich füllt sie die Seiten mit Beobachtungen von Menschen und Natur, reflektiert über Bücher, die sie gelesen hat und ringt um einen Weg, die heranwachsende Frau und die

Schriftstellerin, die sie unbedingt werden möchte, in sich zu vereinen. Mit 16 Jahren verläßt sie die Schule, da sie alle dort gelehrten Begeln verabscheut. Als Autodidaktin bildet sie sich weiter, stets krampfhaft bemüht, Ordnung in ihren Kopf, in ihre Gefühle und in ihre schriftstellerische Arbeit zu bringen.

Als aufsehenerregend schönes Mädchen wird sie von Verehrern belagert und verliebt sich heftig in ihren späteren Mann Hugh Guiler. Ihre Stimmungslage ist „Vibrieren”. Hin-und hergerissen zwischen dem durch die Mutter vermittelten Ideal einer ordentlichen und bedachten Ehefrau („Die Ehe ist nicht aus demselben Stoff wie die Träume gemacht”) und ihrem unbändigen Ehrgeiz, ein selbstbestimmtes Leben als unabhängig denkende und handelnde Künstlerin zu führen („Ich möchte nichts weiter als Frieden, Bücher und Tinte”), entscheidet sie sich schließlich für die Ehe.

Sie ahnt wohl, daß sie der Spagat zwischen ihren Idealen überfordern wird. „Meine Augen sind ein Meer von Verwunderung ... ich bin dazu geschaffen, Tag für Tage auf Millionen Seiten den Inhalt meines Geistes und meines Herzens zu verströmen” vertraut sie ihrem Tagebuch an, aber auch: „Wenn du einen Verstand hast, mach' ein Geheimnis daraus oder begrabe ihn an einem geheimen Ort,... denn Männer hassen denkende Frauen.”

In ihren Tagebüchern kann man bereits deutlich Ansätze ihrer späteren collagehaften Bomantechnik erkennen. Schon als Mädchen montiert sie scheinbar unzusammenhängende Eindrücke aneinander und überläßt es dem Leser, die vielschichtigen und zum Großteil widersprüchlichen Facetten zusammenzufügen. Ihr Bruder Joquin meint über die Aufrichtigkeit ihrer Tagebücher später, sie seien die besten Bomane seiner Schwester und in ihren Bomanen sei sehr viel mehr Authentisches über sie zu finden.

Jenseits der Frage um Aufrichtigkeit zeichnen die vorliegenden frühen Tagebücher ein Bild eines entwurzelten Mädchens, das sich vom Schock, vom Vater verlassen worden zu sein, nie mehr erholt. Mit äußerer und innerer Perfektion hofft sie, den Vater und alle Männer zu beeindrucken. Vorerst nur in der Phantasie, da sie die finanzielle und emotionale Sicherheit der jungen Ehe nicht gefährden will. Zu sehr fürchtet sie Veränderung und neue Entwurzelung. Später geht sie dazu über, ihre Phantasien exzessiv auszuleben, ihr Lebensstil wird zum Vorbild für eine ganze Generation feministischer Frauen. Daß Anais Nin mit ihren unzähligen Liebesbeziehungen zu Männern (wie Henry Miller) und Frauen und ihrem Leben voller erotischer Experimente die unstete, erfolgshungrige, letztlich nach der „idealen Liebe” suchende Frau verbarg, die die Puzzleteile ihrer Lebenscollage nur mühsam befestigen konnte, zeichnete sich bereits in ihrer Jugend ab, wird jedoch von jenen, die sie zur Kultfigur erhoben, gerne verschwiegen.

1903 geboren, dokumentiert Anais Nin mit ihren frühen Tagebüchern den Beginn eines „vibrierenden Jahrhunderts” in Amerika und Europa, das Gier, Egoismus und Verantwortungslosigkeit heute nur noch notdürftig hinter der löchrigen Wohlstandsfassade verbergen kann.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung