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Auf dem Weg nach Österreich

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Seit undenklicher Zeit, seit die Menschen Kriege führen, gibt es das Problem des Heimkehrers, des Mannes, der, aus einer andern, fremden Welt kommend, seinen Fuß wieder an die Gestade des Heimatlandes setzt. Nicht jedem Heimkehrer aber wird das Los des Odysseus zuteil, von Freundeshand empfangen, in, wenn auch hartem Streit, hohe Erfüllung zu finden und sein Leid in unsterblichem Lied verklärt zu sehen.

Österraeich schickt sich in diesen Tagen an, ein großes Heimkehrerproblem zu lösen. Viel in unser aller Zukunft wird davon abhängen, w i e diese Lösung gelingt — nicht in Liedern, nicht in Worten, auch nicht -in freundlich-berechnenden Pressekomentaren, sondern in der Wirklichkeit unseres öffentlichen und privaten Lebens.

Die Amnestie für ehemalige Nationalsozialisten führt zunächst eine runde halbe Million Menschen in die vollen Rechte staatsbürgerlicher Gemeinschaft zurück. Es ist hier an dieser Stelle nicht die Aufgabe, unsere und unserer Gegner Schuld in der Vergangenheit zu erörtern, wohl aber ist es unsere Pflicht, uns auf Größe und Umfang dieses Phänomens, dieser einmaligen staatspolitischen und gesellschaftlichen Erscheinung, zu besinnen, darret alle, die guten Willens sind, heute und morgen das Rechte tun. Denn: wenn dieser eine Rückblick noch verstauet ist: es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Fehlschlag der Entnazifizierungsgesetzgebung der letzten Jahre nicht nur personaler Ranküne, dem politisdien Ressentiment, dem Aufwallen innerlich nicht bewältigter Rachegefühle und einigen düsteren Spekulationen aufs Konto zu setzen ist, sondern vor allem auch einer verhängnisvollen Kurzsichtigkeit, einer Unkenntnis der Größe und Weiträumigkeit des hier vorliegenden Fragenkomplexes und damit eben auch einer völligen Verkennung seiner möglichen und tatsächlichen Folgen.

Wer ein Problem lösen will, muß zuerst 6eine konkrete Struktur kennen. Das heißt in unserem Falle: die Liquidierung des NS-Problems in Österreich ist nicht einfach nur Sache einer Neuschaltung der Gesetzesmaschine und einer Einschaltung neuer Parteien, sie läßt sich tedinizistisch, mechanisch und rein „politisch“ überhaupt nicht erstellen, sondern fordert, wenn sie wirklich „Liquidierung“, das heißt Flüssigmachung, Lösung eines schwierigen kompakten Sachverhaltes, sein soll, ein Eingehen auf tiefere menschliche, innermenschliche Bereiche.

Das NS-Problem ist ein Heimkehrerproblem. Versehrte, Kriegs- und Nachkriegsversehrte, mit uns Träger und Opfer einer historischen Epoche, sollen heimfinden in die geistig-seelische, in eine politische und staatsbürgerliche Gemeinschaft, die sich ihnen zunächst verwehrte, in eine Heimat, an und in der sie selbst einmal Weits schuldig geworden sind, eben weil sie diese nicht als Heimat verstanden und erlebt haben. Ein heikles, ein schwieriges Problem, das, wie wir bereits sehen, nicht mit Gesetzesentwürfen und politischen Kombinationen abgetan werden kann, das auch nicht von heute auf morgen erledigt wird, das mehr Zeie, mehr Geduld, mehr Tatkraft, mehr Einsicht, mehr Liebe zu seiner Bewältigung fordert als alle diese wohlmeinenden Aktionen zusammen.

Die Menschen in Europa, in Sonderheit auch im mitteleuropäischen Kernraum, haben in den letzten Jahrhunderten Furchtbares mitgemacht. Wie oft kamen „Glaube und Heimat“ in Konflikt, die Gewalttaten der Epoche der Reformation und Gegenreformation eitern bis heute aus. Exulanten-, Emigrantenschicksale überall, wohin der Blick, tiefer sondend, dringt. Äußere Emigration, etwa der Salzburger Protestanten nach Ostpreußen, und innere Emigration, etwa in unseren Alpentälern … Der Nationalsozialismus wußte, was er tat, als er, in wohlberechneter Aufpeit- schung der Haßinstinkte, im Aufdecken alter Wunden daranging, die eben angeführten historischen Tatsachen ins grelle Licht seiner tendenziösen Schau-Spiele zu stellen. An diesem Zur-Schau-Stellen alter Wunden droht heute wieder die Welt, zumal Europa, zu scheitern. Der Europäer erscheint vielfach als der Mensch, der die Schuld des Bruders nicht vergessen, nicht vergeben kann und sich deshalb selbst immer tiefer im Kreis- und Irrlauf eigener Schuld verstrickt. Mahnung genug für uns Österreicher. Täglich können wir es erleben: eine scheinbar oberflächliche Erscheinung, ein scheinbar geringfügiger Anlaß genügt, und schon flammen alle Haßinstinkte hoch, reißen die Wunden — von’1918, 1933/34, 1945 — auf, es gellt der Ruf nach Rache, ein Ruf, der anzeigt, wie groß die Zahl der Versehrten noch unter uns ist.

Das also ist die Tatsache, die einzubekennen wir nicht umhin können und die kein leisetreterisches Wortgepränge verschweigen kann, die wir alle vielmehr stündlich, täglich, jährlich in unsere private und öffentliche Bilanz einstellen müssen: es gibt eine große Zahl Versehrter in unserem Österreich. Wenn das „Heim- kehrerproblem“ aber so gesehen wird, dann fordert seine Lösung zwei Vorbedingungen.

Erstens, daß die Kranken sich als Kranke empfinden und Heilung suchen — ein für diese Art Kranker besonders schwieriges Problem.

Zweitens aber, daß der Arzt wirklich Heilender, nicht Feldscher ist und um die rechten Mittel der Heilung weiß.

Von diesen Einsichten sind wir noch weit entfernt. Und doch dürfen wir nicht mutlos werden — zu viel steht auf dem Spiel. Es geht, fassen wir es kurz zusammen, um folgendes: Die „Heimkehrer“ müssen von uns überzeugt werden, daß in Österreich lebendige Demokratie möglich ist, ja, daß sie die einzige, heute mögliche politische Lebensgemeinschaft darstellt, daß nur durch ihre Verwirklichung Österreich allen seinen Söhnen wahre Heimat werden kann. Demokratie, nicht als getarnte Einherrschaft einer Partei von gestern, heute oder morgen, sondern als • Gesprächs- und Lebe n - gemein schaft auch von Gegne r n. Von Menschen, , die . sehr verschiedene Interessen ‘ Vertreten und sehr verschiedener Meinung sein können, die aber grundsätzlich . darauf verzichten, sich gegenseitig zum Fein d, zum Todfeind zu stempeln.’ Lebendige Demokratie fordert also die. eindeutige Absage, den offenen Verzicht auf die menschheitsfeindliche Ideologie des’ Nazismus, weil diese jedes Eingeständnis eigener Fehler, eigener Schuld ablehnt und den Gegner von vornherein und prinzipiell zum Feind stempelt, der zu vernichten ist. Wir müssen es offen aussprechen: Die so notwendige Absage an diese Ideologie ist von vielen noch nicht klar, ja oft überhaupt noch nicht ausgesprochen worden, gerade nicht von den beamteten und nichtbeamteten Sachwaltern des Geistes, der Kultur, die heute bereits wieder allerorts Führungs- Stellen fordern. Diese Männer leisten der jungen, im Wachsen und Werden begriffenen österreichischen Demokratie wie auch der größeren europäischen Kulturgemeinschaft einen schlechten Dienst, wenn sie, die sich immer noch als Führer zahlreicher „Heimkehrer“ betrachten und vor allem von diesen als solche angesehen Werden, uns naserümpfend erklären: Eure Ideen sind auch nicht besser als die vor 1945! In versteckter und teilweise überraschend offener Form wird dabei von ihnen selbst die Ideologie des Nazismus vertreten. So geht es nicht. Es ist heute Sache, ja Auftrag und Beruf gerade der ehemaligen Nationalsozialisten, aller jener, denen es ehrlich um eine Heimkehr nicht nur nach Österreich, sondern in den Kosmos der abendländischen Ruiturgemeinschaft geht, Ideologie und Wirklichkeit des- Nationalsozialismus einer kritischen Untersuchung zu unterziehen. Wir warten darauf. Zahlreiche, im Dritten Reich führende Schriftsteller, Dichter, Wissenschaftler, teilweise ehedem geistig führende Sprecher der nationalsozialistischen „Kultur“ und Politik, bevölkern heute bereits wieder die Auslagen unserer Buchhandlungen, halten Vorträge und urteilen als Richter der Zeit. Mögen sie dies eine tun, aber mögen sie das andere nicht lassen: es ist ihre Pflicht, die Vergangenheit einer grundsätzlichen, ehrlichen und umfassenden Kritik zu unterziehen, nicht sie zu tarnen, zu verharmlosen und reinzuwaschen, wollen sie, geistige „Führer“ von gestern, sich nicht dem berechtigten Verdacht aussetzen, Verführer, zumal der Jugend von morgen, zu werden.

Wem es wirklich ehrlich um eine „Heimkehr“, um Eintritt, Sitz und Stimme, nicht im Parlament, sondern in der österreichischen, in der europäischen Lebensgemeinschaft des Geistes und der Seele, des gesamten Menschentums zu tun ist, der muß ein grundehrliches Bekenntnis der Absage an den Ungeist der nationalsozialistischen Ideologie leisten. Deren mörderische, menschenfeindliche, durch und durch vom Keim her vergiftete Struktur erweist ein einfacher Vergleich mit der Geschichte des Christentums: tausende, gerade sogenannte „Christen“, haben dieses Christentum zu allen Zeiten besudelt, entehrt, niemals aber vermochten sie seinen reinen Kern zu vergiften und zu zersetzen. MitIdeologie und Wesen des Nazismus verhält es sich genau umgekehrt: die reinsten und besten Männer, vorerst eine strahlende Jugend, die sich ihm zur Verfügung stellten, wurden von ihm auf die Dauer infiziert, beleidigt und erniedrigt — als Handlanger des Bösen mißbraucht, wie zahlreiche große in Deutschland in der letzten Zeit aufgerollte Fälle gezeigt haben. Damit ist eindeutig erwiesen, daß auf diesem Fundament nicht mehr gebaut werden kann: wer auf ihm stehenbleibt, vershließt sih jeder wahren „Heimkehr“, ist nicht befähigt und nicht bereit, in jenes große Gespräch einzutreten, das wahre Demokratie und wahres Österreich heißt. Wer aber diesen zugleich steinigen und vulkanischen Boden ewiger Menshheitsfremde verläßt und sih in einem inneren Aufbruch anschickt, in ein neues, in ein altes Land zu wandern, dem wollen wir entgegengehen. Auf daß wir alle uns in einer echten Mitte finden. In der Herzmitte des Abendlandes: in Österreich.

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