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Auf demVeitsberg

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9. Fortsetzung

Schwere, schreckliche Tage liegen hinter mir. Ich sehe alles noch schwarz und voll Trauer. Kurz erzählt kam es so. Die Brandhofbäuerin fuhr mit ihren drei Kindern mit dem leichten Wagen am Sonntag zu den künftigen Schwiegerleuten auf Besuch. Es war der erste feierliche der ganzen Familie, wahrscheinlich hätten sich daraus Entscheidungen ergeben. Der Sohn kutschierte, Rosl saß neben ihm, rückwärts saß die Mutter und die jüngere Schwester. Um ein Uhr nachmittag waren sie weggefahren, um halb zwei fuhren sie auf einer Nebenstraße über eine ungeschützte Bahnübersetzung. Man weiß noch nicht genau, wie es geschah. Wahrscheinlich sah der Bub nur auf eine Seite, wo eben ein Zug vorbeigefahren war, und übersah den von der andern Seite. Ros. war auf der Stelle tot, ihr Bruder liegt schwer verletzt im Spital, die beiden andern wurden bloß zur Seite geschleudert und kamen mit unbedeutenden Schrammen davon. Schneeweiß wurde sie aufgebahrt, lange stand ich an dem offenen Sarg und weinte, als wäre meine Schwester gestorben. Ein Engel war mir erschienen und zu schnell wieder davongegangen. Ich ging mit Agnes beim Begräbnis hinter der Familie. Wir warfen ihr Blumen ins Grab nach, statt Erdschollen. Dann eilte ich heim, denn ich hatte Veit in der Stube eingesperrt.

Jetzt, wenn ich dran denke, bin ich versucht zu glauben, Rosl sei nur ein Phantasiegebilde von mir. In mir lebt sie als der vollkommene Mensch. Ich wollte immer etwas Großes und Bedeutendes von ihr erfahren, aber ich kam nicht dazu, ich konnte sie nicht fragen:

„Was ist dein Geheimnis, gib es mir preis.“

Jetzt ist es zu spät. Ich bin so froh, daß ich ihr Bild in meinem Herzen immer rein bewahrt habe. Nur wenn ich mich erinnere, wie sie neben mir gesessen und geweint hat, da werde ich weich und es würgt mich im Halse.

Ich bin wieder mit meinen Kindern allein 'Zum Brandhof gehe ich selten. Dem Bruder geht es besser, höre ich, was jetzt aus der Heirat wird, interessiert mich nicht mehr. Mein Prophet schaut tief bekümmert in die Welt und ich glaube, er hat recht. Auf der Suche nach seinem Wort bin ich auf etwas gestoßen, was mir Freude und Anregung gibt. In der Kapelle liegt ein altes Buch, wie es die Priester benutzen, wenn sie hier die Messe lesen. Ich sah es mir wegen der alten Stiche an, mit denen es geziert ist. Es strömt einen muffigen Geruch aus. Ich habe schon lange keine lateinischen Texte gelesen, drum reizt es mich, es zu versuchen. Im großen und ganzen geht es. Das Buch besteht aus vielen hundert Stücken aus der Bibel, die nicht schlecht ausgewählt sind. Es sind Weisheitssprüche und Lesungen von beachtlicher Tiefe. Ästhet wie ich bin, macht natürlich das Altertümliche und Großartige des Buches einen entsprechenden Eindruck. Ich las folgenden Satz, der mir tagelang im Gedächtnis blieb: „ In der Unterwelt gibt es keirle Klage über das Lebensalter.“

Darin ist angedeutet, daß von drüben aus alles anders aussieht. Ich habe viel über das Sterben und den Tod nachgedacht und in meinen Kalender den Satz geschrieben, den ich einmal gelesen habe:

„Als den Weisen jemand bat, ihm das aufzuschreiben, was ihm am meisten am Herzen liegt, malte er das Zeichen „schi“, das ist „Tod“, auf und reichte es ihm.

Der Tod ist wirklich das einzig Erregende in unserem Leben. Er ist der große Hintergrund, der unserem Leben Tiefe und Bedeutung gibt. Ich fürchte mich unendlich vor dem Sterben. Jeden Abend vor dem Schlafengehen und in den langen schlaflosen Stunden der Nacht denke ich an ihn. Es ist zu verwundern, daß die Menschheit sich so mit der Tatsache des Sterbens abfindet. Ich sehe nur, wie bedeutungslos alles wird, wenn man den Tod ernst nimmt- Es wird einem recht eigentlich alles vergällt. Ich verstehe auch, wie man zum gegenteiligen Schluß kommt: Drum leben, leben, die Zeit ist so kurz. Von drüben betrachtet ist wahrscheinlich das eine so dumm wie das andere. Mein Prophet fürchtet das Sterben nicht. Rosl, glaub' ich, hätte doch noch gerne gelebt. Wenn mit dem Tod alles aus wäre, dann würde auch von ihr nichts bleiben. Dagegen wehre ich mich. Wie könnte ein so vollkommenes Wesen einfach verschwinden, als wäre es nicht gewesen. Rosl, wo bist du? Warum kann ich nichts erkennen von deiner neuen Existenz? In der Kirche las ich: „Es ist eine große Kluft zwischen hüben und drüben.“

Ich möchte gerne über das Sterben und all diese Dinge mit jemand reden, aber ich habe niemand.

Bin ich nicht dem Tod davongelaufen, recht eigentlich entsprungen, damals als ich ins Maisfeld lief. Aber drüben ist keine Klage über das Lebensalter. So würde ich es jetzt nicht beklagen, wenn ich damals gestorben wäre. Es ist gut, daß es uns nicht zusteht, uns die Lebenszeit zuzumessen.

Ich kann nicht leiden, wenn Leute über Veit sagen, für ihn wäre es besser, er wäre von seinem schrecklichen Dasein erlöst. Warum über etwas reden, wo wir nicht zuständig sind. Wir sollen alles Lebende in Liebe umfassen und voll Rührung und Zärtlichkeit sein gegen alles, was lebt.

Die Pichlerin hat die Kirche immer abgesperrt, ich sperre sie nur am Abend zu, tagsüber lasse ich das Tor offen. Die Kinder laufen oft hinein. Ich habe Freude, wenn der zeitliche und ewige Bereich einander berühren. Nach Rosls Tod saß ich oft lange in der Kirchenbank, ein gläubiger Mensch würde gebetet haben, ich habe nachgedacht mit dem Kopf und dem Herzen, vielleicht ist es etwas Ähnliches. Ich bin immer beruhigt herausgegangen. Es ist ein bloßes Gerede, wenn man sagt, überall könne man in sich selber versinken. Es kommt sehr auf die Umstände und den Raum an. Agnes hat dem Veit lernen wollen das Kreuz zu machen. Es ist erschütternd zu sehen, wie er sich damit plagt. Sie schimpft mit ihm und sagt, sonst dürfe er nicht in die Kirche gehen. Das Wichtigste ist für sie der Weihwasserkessel beim Eingang, jedesmal spritzen sie sich an. Ich habe schon gewöhnliches Wasser nachgegossen, hoffentlich teilt ihm das geweihte etwas von seiner Kraft mit. Ich werde die Pichlerin fragen, was ich tun soll. Veit freut sich so, wenn er die Hand ins Wasser tautjht. Ich glaube, das rechnet Gott wie ein Gebet seinem ärmsten Geschöpf an. Früher habe ich kein Kreuz mit dem Wasser im Gesicht gemacht, wenn ich in die Kirche ging, aber um Agnes nicht zu betrüben, mache ich es jetzt.

Ein neues Unglück ist geschehen. Als ich am Morgen die Kirche aufsperrte, um zu läuten, standen der heilige Laurentius und der heilige Stephanus nicht auf ihrem Platz neben dem heiligen Veit.

Ihr Platz war leer. Sie waren nicht herabgefallen, ich konnte es mir nicht erklären. Voller Angst lief ich durch die Kirche und fand nichts. In der Sakristei fand ich die Lösung. Das Tor, das von der Sakristei ins Freie führt, das wir aber nie benützen, war offen. Es war nicht durch ein Schloß sondern durch einen Balken zu verschließen. Agnes erzählte, gestern nachmittag seien zwei Herren in der Kirche gewesen und hätten sich alles genau angesehen. Es waren wahrscheinlich dieselben, die früher einmal hier waren und sich als Kunsthistoriker ausgegeben hatten. Es mögen Antiquitätenhändler gewesen sein. Sie hatten sich das Tor geöffnet, ich hatte es am Abend übersehen, und des Nachts waren sie dann einfach in die Kirche gegangen und hatten sich die Heiligen geholt. Ich bin schuld am ganzen. Ich habe die Kirche offenlassen. Ich habe am Abend nicht nach dem Tor gesehen, ich war der Hüter. Ich ließ die Polizei rufen. Verzweifelt wartete ich. ich dachte, sie würden gleidi kommen, aber es wurde Nachmittag, und ich wartete noch immer. Inzwischen wußte es das ganze Dorf, wahrscheinlich auch der Pfarrer, dem ich es gerne selber mitgeteilt hätte. Aber ich wollte dabei sein, wenn jemand von der Polizei kommt. Gegen Abend kam ein jüngerer Wachmann mit dem typischen Gesicht eines Magenkranken. Auf meine Klage, daß er soviel Zeit verstreichen habe lassen, fuhr er mich zornig an, er sei seit der Früh auf den Beinen, die Diensteinteilung lasse er sich nicht vorschreiben. Er zog sein Buch aus der Tasche und begann alles des langen und breiten aufzunehmen. Als er den Tatbestand aufgeschrieben, notierte er meinen Verdacht. Er fragte mich aus und betrachtete alles. Wer in d^m Häuschen wohne, ob das meine Kinder seinen, was ich überhaupt hier mache. Es war schwer, das alles amtsmäßig zu bestimmen. Er ging auch durch das Haus und kam in meine Kammer. Die verschleierte Büste interessierte ihn. Ich mußte das Tuch entfernen, und er betrachtete die Figur. Wo sie her sei, wem sie gehöre.

„Warum haben Sie sie von der Kirche herübergenommen?“

„Um sie genauer zu betrachten.“

„Wann haben Sie sie gefunden?“

„Vor einigen Wochen.“

„So lange brauchten Sie zum Ansehen. Das sieht man doch mit einem Blick. Was wollten Sie später damit madien?“

„In die Kirche zurücktragen.“

„Weiß jemand, daß Sie die Figur heruntergenommen haben?“

„Nein.“

„Hm, ich werde es notieren.“

Mir wurde es jetzt klar, daß er mich für den Dieb der Statuen hielt. Als ich wieder von den zwei Herren anfing, nahm er Agnes allein ins Zimmer und fragte sie aus. Diese Spur nimmt er scheinbar nicht ernst. Schöne Geschichte. Warum habe ich auch nicht früher mit dem Pfarrer gesprochen. Wenn er mir auch mißtraut, bin ich erledigt. Mit Schimpf und Schande werde idi noch von hier verschwinden müssen.

„Wir werden der Sache nachgehen“, das war sein letztes Wort, dabei sah er midi mit einem durchdringenden Blick an.

Als er den Hügel hinabgegangen war, fing Veit zu weinen an. Die armen Kinder hatten den ganzen Tag noch nichts Warmes zu essen bekommen. Eilends lief ich in die Küche und machte Feuer. Ich wollte mich zwingen, in aller Ruhe zu kochen, da fiel mir ein, ich müßte an diesem Abend noch zum Pfarrer laufen. Sdinell speiste ich die Kinder ab, würgte selber etwas hinab, steckte die Kinder ins Bett, versperrte Kirche und Haus, und lief ins Pfarrdorf. Es führte eine Straße dorthin und ein schmaler

Pfad an der Donau. Letzteren ging ich. Ruhig floß der Strom neben mir dahin und trotz meiner Aufregung dachte ich, es sei nicht gut, daß ich so wenig von dem Berg herabkomme. Durdi meine Absonderung habe ich selber zur Entstehung eines Mythos über mich beigetragen, dessen Früchte ich nun ernten kann. Warum sollte ich die Statuen nicht selber gestohlen haben? Der Mann hat mich nach dem Wert der Statuen gefragt, und ich habe eine ziemlich hohe Summe genannt.

Agnes sagte mir beim Essen, daß er sie gefragt habe, ob ich keine Schuhe hätte, weil ich ihn barfuß empfing. Ich hatte nicht daran gedacht, zur Amtshandlung Schuhe anzuziehen. Zum Pfarrer ging ich in Schuhen. Es war nidit Hochmut, daß ich den Pfarrer nie besucht hatte, sondern eher Menschenscheu. Ich schließe mich nicht leicht jemandem auf. Es bedeutet mir eine zu große Anstrengung.

Nadidem ich am Pfarrhaus geläutet hatte, öffnete mir der Pfarrer selber und führte mich ins Haus. Dem Alter nach hätte er mein Vater sein können. Er war die Ruhe selber. Er ließ mich setzen, und rauchend hörte er meine Erzählung an. Er wunderte sich nicht, als ich ihn mit wenigen Worten über meine Existenz aufklärte. Ich schrieb ihm einige bekannte Namen auf, wo er sich nötigenfalls nach mir erkundigen könnte. Ich bat ihn, sich alles an Ort und Stelle, anzusehen, da von seinem Urteil wahrscheinlich der ganze Ausgang der Sache abhinge. Es wäre mir schrecklich, als Dieb angesehen zu werden. Ich sei über das Verschwinden der Heiligen selber der unglücklichste Mensch. Der Pfarrer ließ mich ausreden. Allerdings wußte ich seine Reserviertheit nicht zu deuten, hielt er mich für den Dieb oder nicht. Morgen werde er kommen, und sich die Sache ansehen.

Es war für mich eine böse Nacht. Der Pfarrer kam wirklich gleich nach der Messe. Er. sah meine beiden Kinder und fragte mich wegen der Pichlerin und ihrer Tochter. Dann stellte er sich vor meinen Propheten und betrachtete ihn. Er lobte die saubere Arbeit, aber den großen Eindruck wie ich hatte er nicht. In der Nadit hatte ich mir einige zu meiner Entlastung zurechtgelegt. Wenn ich wirklich die zwei Statuen gestohlen hätte, würde ich doch früher den Propheten verschwinden haben lassen, von dessen Existenz niemand etwas gewußt natte- (Fortsetzung folgt)

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