Auf den Wellen der Worte

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Fakten und Fiktionen aus Jahrhunderten umspülen eine Insel im Südatlantik: nämlich Raoul Schrotts "Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde".

Die Insel - Sehnsuchtsort und Fluchtpunkt, Inbegriff der Freiheit ebenso wie des Gefangenseins. Aus der Sintflut tauchend und für die Land suchenden Seeleute rettendes Paradies. Bedeutungsschwanger gerät auch die Insel Tristan da Cunha ins Blickfeld, vor allem wenn sie zum Mittelpunkt des Romans eines Autors wird, der scheinbar sicher auf den Weltmeeren der Kulturgeschichte unterwegs ist: Raoul Schrott. Hat er erst einmal seine Segel gehisst, dann heißt es seetüchtig zu sein und schwindelfrei. Zumindest in seinem jüngsten Roman, der an inner- und außerliterarischen Verweisen so ziemlich alles aufzubieten hat, was man auf 715 Seiten behandeln kann.

Die entlegenste Insel

Der Mittelpunkt, um den so manches Seemannsgarn gesponnen wird: eine Insel bzw. Inselgruppe im Südatlantik, die es nicht nur literarisch - vielleicht schon als Insel Felsenburg - sondern wirklich gibt. Tristan da Cunha (mit 290 Einwohnern), Inaccessible, Nightingale und Gough (alle unbewohnt) sind die entlegensten Inseln der Welt und eignen sich hervorragend als Schauplatz und Ausgangsort für Entdecker- und Entdecktengeschichten, Männer- und Frauengeschichten, Leben also im kleinen überschaubaren Raum. Als Metapher, zu der Schrott die Inseln auch macht. Allerdings ohne dabei überschaubar zu bleiben.

Der Anfang schon zieht in die Schrott'sche Naturpoesie hinein. "Mond, gleitend übers Packeis, der Himmel makrelenfarben, schillernd wie die Rücken eines Fischschwarms, wenn er im Sommer an die Oberfläche steigt und einen Ball im Wasser bildet." Kälte, weiß klammernde Finger, Albatrosse, Schiffssirenen, Eisberge - und dann der erste Blick auf den Ankunftsort: "Nichts, ein Weiß wie das meines Schreibheftes hier, auf dem ich zwar die Fluchtlinien einer illusorischen Perspektive einzeichnen könnte, ohne dass sich mit ihr jedoch etwas projizieren ließe, kein Berg, keine Höhenstufe, keine einzige Umrisslinie, nur die flache Ebene des Fimbul Eisschelfs bis zum Horizont. Die Vierte Welt." Eine nicht mehr so junge Forscherin (sieben Jahre wird sie in etwa noch fruchtbar sein), kommt im Jahr 2003 auf einer Forschungsstation in der Antarktis an, um mit anderen Männern hier ihrer Arbeit nachzugehen. Noomi Morholt. Ihr Name ist Programm. Erinnert natürlich nicht zufällig an das Buch Ruth, in dem sich Noomi den Namen Marah, die Bittere gibt, "denn viel Bitteres hat der Allmächtige mir getan", und an Tristan, der gegen Morolt kämpft.

Verweise überall

Und so geht es denn auch dahin. Auf Schritt und Tritt Verweise. Auch in den anderen Erzählebenen, mit denen Schrott uns abwechselnd konfrontiert. Männergeschichten, die Noomi in einer Kiste findet - und ab und zu auch kommentiert. Da ist die des Briefmarkensammlers Mark Thompson (es grüßt König Marke bei Tristan!), der ausgehend von seinen Sammelobjekten vorgeblich die Geschichte der Insel erzählt und dabei doch nur seine eigene. Den Verlust seiner Frau an einen anderen. Dann gibt es noch die Briefe des im 19. Jahrhundert auf die Insel geschickten Priesters Edwin Heron Dodgson an seinen Bruder Lewis Carroll, bekannt als Autor von Alice im Wunderland. (Der letzte Brief Dodgsons wird Dutzende literaturinteressierte Theologen beschäftigen). Und schließlich wird noch die Geschichte des im Zweiten Weltkrieg als Funker auf der Insel stationierten Christian Reval rückwärts erzählt von seinem Tode bis zu seiner Ankunft auf der Insel.

Geschichten von Männern, die der Insel, vor allem aber ihrer Marah verfallen sind. Denn da ist zerbrochene, enttäuschte, desillusionierte Liebe, wohin man auch schaut und überall diese Marahs und Nebenbuhler. Nicht die Insel, sondern eine nackte Frau ist denn auch am Cover abgebildet. Die Geschichte ist zwar einerseits höchst komplex, im Grunde aber schlicht, denn: Alles kehrt immer wieder, vor allem Liebeskummer.

Natürlich geht es um Utopien, wie kann es angesichts des Inselmotivs anders sein. Natürlich geht es um kollektive wie individuelle Sehnsucht und deren Verortung. Sie betrifft nicht nur einstige Entdecker und Möchtegernentdecker, sondern auch heutige Liebende. Da kann selbst das Sammeln von Briefmarken zur Metapher werden, als Möglichkeit den glückhaften Augenblick immer wieder noch hinauszuzögern, als Erlösung, die keine Erfüllung kennt. Als Utopie.

Vor allem: Konstruktion

Aber in Wirklichkeit scheint es gar nicht so sehr um Inhalte zu gehen, so minutiös Schiffbrüche, Streitereien oder Selbstbemitleidungen auch geschildert werden. Sondern um die Belesenheit des Autors und die Neukonstruktion der Quellen und Stoffe, die da (unter anderem!) sind: Altes Testament, Dante, Tristan u.v.m. Noomi hat Teile der in diesen Text verwobenen Elemente in der Kiste gefunden (auch diese Idee ist nicht neu). Für geübte Leser sind sie zu erkennen und Literaturwissenschaftler können die nächsten Jahre auf Entdeckungsfahrten gehen.

Nicht auf die Originalität kommt es an, sondern auf die Formulierung, schreibt Raoul Schrott, der sich versteckt bzw. offenbart hat in jenem Schriftsteller Rui (!), der mit Noomi Mails austauscht, bis er eine neue Frau findet und Noomi "verlässt". "Aber an Originalität war mir noch nie gelegen; Literatur liegt für mich im Versuch, für archetypische Situationen und Emotionen die eine passende und allumfassende Formulierung zu finden, die rechten Worte und die richtigen Sätze - darin besteht ihre Formelhaftigkeit, schon seit Homers epischen Zeiten. Ich halte mir eher auf die Konstruktion etwas zugute."

Und konstruiert ist dieser Roman, das muss man ihm lassen. Die Orientierung geht dabei schnell verloren. So mancher Leser, der durch seitenlange Exkurse zu historischen, physikalischen oder sonstige Themen seinen Kurs zwischen Jahrhunderten und Namen zu halten versucht, wird Schiffbruch erleiden. Es sei denn, er genießt es, sich einfach auf den Wellen der Sprache treiben zu lassen ohne zu wissen wohin.

Keine Lebendigkeit

Ab und zu kann ein Anker geworfen werden, zum Beispiel indem man im Lexikon nachschlägt, um zu erfahren, wo die anerkannte Historie aufhört und die Schrott'sche Fiktion beginnt - ohne um die Grenze schließlich je gesichert zu wissen, was mit zum Spiel, das Lesen heißt, gehört.

Raoul Schrott, der im Oktober den Förderungspreis für Literatur des Bundeskanzleramtes erhielt, fabuliert und formuliert. Die Lebendigkeit bleibt dabei aber auf der Strecke. Schrotts Figuren atmen nicht, sie bleiben, was sie sind: Literatur. Was vielleicht auch daran liegt, dass Schrott keine Rücksicht darauf nimmt, wem er seine unbestritten kunstvolle Sprache in den Mund, besser gesagt in den Stift legt.

Tristan da Cunha

oder Die Hälfte der Erde

Roman von Raoul Schrott

Hanser, München 2003

714 Seiten, geb., e 26,70

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