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Auf der Flucht vor der Furcht

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Das Kreisgericht in Königgrätz stellte im Jahre 1968 fest, daß der Arbeiter Jaroslav Dyntera eigentlich keines Vergehens schuldig sei. Warum aber hat er sich dann länger als ein Jahrzehnt versteckt gehalten? Wie weit und wie tief wirkten die Ursachen, die einen jungen Menschen zur Flucht aus der Öffentlichkeit zwangen? Wie viele außergewöhnliche -Umstände mußten zusammenfallen, um. Dyntera und die BauernfamUie Jiränek so und nicht anders handeln zu lassen als in nachfolgender Geschichte?

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Das Kreisgericht in Königgrätz stellte im Jahre 1968 fest, daß der Arbeiter Jaroslav Dyntera eigentlich keines Vergehens schuldig sei. Warum aber hat er sich dann länger als ein Jahrzehnt versteckt gehalten? Wie weit und wie tief wirkten die Ursachen, die einen jungen Menschen zur Flucht aus der Öffentlichkeit zwangen? Wie viele außergewöhnliche -Umstände mußten zusammenfallen, um. Dyntera und die BauernfamUie Jiränek so und nicht anders handeln zu lassen als in nachfolgender Geschichte?

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Es ist schon zwanzig Jahre her. Damals trat der kaum ausgelernte Tischler Jaroslav Dyntera eine Arbeit in den Gruben von Svatono-vice an. In den Schächten herrschte Mangel an Arbeitskräften. Auch Häftlinge wurden herangezogen. „Wir brauchten Wächter, um die Gefangenen zu beaufsichtigen“, sagte man einmal zu Jaroslav Dyntera, und dieser, lehnte nicht ab, weil er darin nichts Schlechtes sah. Außer einigen anderen Vergünstigungen hatten die Aufseher das Recht, eine Schußwaffe zu tragen. Und dann trat die Begebenheit ein, die vielleicht niemand mehr aufklären wird, die aber das weitere Schicksal des Mannes bestimmte. Der Neunzehnjährige fuhr zum Jahrmarktfest in sein Heimatdorf. Die Waffe nahm er mit. Vielleicht erblickte sie jemand und erstattete auch Meldung auf der Polizei. Möglich, möglich, möglich... Der Sicherheitsdienst kam. Dyntera war zufällig nicht zu Hause. Er kam erst heim, als die Polizisten schon fort waren. Übrigens waren sie auch gar nicht so darauf erpicht gewesen, jpen mitzunehmen.Doch Dyntera erschraik. Dutzende Vermutungen gingen ihm durch den Kopf, Überlegungen, bei denen er keine Lösung wußte. Seine Gedanken wanderten zum Schacht, wo er die Gefangenen bewachte, von denen mancher nicht wußte, warum er eingesperrt war. Es begann die Zeit der stalinistischen Finsternis in der CSSR. Ein Abschnitt allgemeiner Verdächtigungen und Furcht. Je mehr Dyntera nachgrübelte, desto weniger fand er einen Ausweg. Er flüchtete in den Wald. Angst trieb ihn von Ort zu Ort. Er stammte von armen Leuten ab, seine Eltern waren schon gestorben. Er suchte die Verwandten in seinem Geburtsort auf. Dann verschwand er für immer. In den Forsten zwischen Mecov und Libnatov bei Nächod entdeckte man eines Tages einen Erhängten, den aber niemand identifizieren konnte, weil der Leichnam sich schon im Zustand fortgeschrittener Verwesung befand. Es soll Jaroslav Dyntera gewesen sein...

Am 3. Jänner 1950, draußen herrschte klirrender Frost und lag Schnee, klopfte jemand ans Fenster der Schindelhütte des Bauern Josef Jiränek. In der warmen Stube stand ein kaum zwanzigjähriger, untersetzter Bursch, hungrig und durchfroren. Er bat um Hilfe und Unterschlupf. Er war mit dem jungen Josef Jiränek bekannt und suchte in seiner Verzweiflung Unterstützung bei guten Bekannten. Der Vater Josef Jiränek begriff, daß etwas geschehen müßte, um so mehr, als der Bursch augenscheinlich am Ende seiher Kräfte war. Er ließ ihn einmal, zweimal übernachten. Er brachte es nicht fertig, den Burschen; hinauszutreiben in ein Wetter, wo man nicht einmal einen Hund auf die Gasse jagt. Eigentlich war gar nichts passiert. Wenn aber der junge Mensch schon ein halbes Jahr unauffindbar geblieben war, schien es bei den damaligen Zuständen nicht ratsam, auf einmal wieder in der Öffentlichkeit aufzutauchen.

Wehe, wenn ein Mensch ohne eigene Schuld sein Gesicht verbergen muß, aber dreimal wehe dem, der das auf sich nimmt.„Ich versteck' Sie einstweilen im Lager“, sagte Vater Jiränek. Er führte den Unglücklichen in eine Waldeinöde, die ihren Namen im Dreißigjährigen Krieg erhielt, weil dort die Schweden lagerten. In der Einöde lebte die alte Mutter des Bauern Jiränek. Doch auch sie durfte nicht erfahren, um welch Geheimnis es sich handelte. Ab und zu hielt sich bei ihr ein fremder Mann auf, doch bis zu ihrem Tode wußte sie nicht, daß er Dyntera hieß. Die Jahre gingen dahin, und das Geheimnis blieb Geheimnis, das niemand verriet. Als die Großmutter starb, zogen die Jiräneks nach Mefiov. Das ist ein größeres Dorf und gehört zum benachbarten Krizanov. An seinem Rand, mit Aussicht auf das Adlergebirge, stehen zwei Häuschen. Eines gehört dem alten Jiränek, das andere dem jungen. In der Scheune nebenan fand Jaroslav Dyntera einen Unterschlupf. Die Jiräneks taten, was in ihrer Macht war. Frau Jiränkovä erzählt: „Täglich mußte er ein warmes Essen haben. Darauf habe ich geachtet. Wenn keine Gelegenheit war, es ihm mittags oder abends zu bringen, bekam er es später. Außerdem hatte er stets Brot und hausgemachte Butter bei sich.“

Doch bei Jiräneks gab's nicht immer Brot genug. Obwohl sie Bauern waren. Josef Jiränek gehörte zu denen, die mit der gewaltsamen Kollektivierung nicht übereinstimmten. Das hatte unvorhergesehene Folgen. „Zuerst habe ich geglaubt, sie machen einen Witz. Die vorgeschriebenen Abgaben konnte ich nicht erfüllen. Aber dann wurde es kritisch. Man nahm uns die Mühlkarten ab. Es gab auch keine Mehlzuteilung. Ich mahlte es mir zu Hause auf einer Vorrichtung aus dem zweiten Weltkrieg. Ich muß Ihnen etwas Interessantes sagen. Einmal erschien eine Kontrolle und wollte wissen, warum ich die Ablieferung nicht einhalte. Ich erklärte es, doch sie schienen nicht zu begreifen. Sie kamen zum Tisch, dort lag Schwarzbrot aus selbstgemahlenem Mehl. Es war vielleicht das schwärzeste Brot. auf der Welt. Das essen Sie?, wurde ich gefragt. Ja, sagte ich, und meine Frau fügte noch hinzu, sie sollten sich schämen, so ein Brot hätten wir nicht einmal im Krieg gegessen. Am anderen Tag kam von der Gemeinde Nachricht, wir sollten unsere Mühl-karten abholen kommen.“ Frau Jiränkovä: „Es gab allerhand Vorfälle. Einmal wurden die Haustiere kontrolliert. Ein Polizist war auch dabei. Er untersuchte alles sehr gründlich. Als er unten nichts fand, stieg er die Scheune hoch. Gerade dorthin, wo Jarka versteckt war, leuchtete er mit der Taschenlampe, doch fiel ihm nichts auf.“ Zu Beginn verbarg sich Jaroslav Dyntera nur auf dem Heuboden. Er las viel. Doch später schlich er auf Besuch zu den Jiräneks. Abends, wenn's dunkelte, oder in der Nacht. Es entspannen sich verzweifelte Diskussionen. Freiwillig melden? Nein, das wäre unmöglich. Es sei noch keine günstige Zeit. Im Jahre 1960 wollte er sich bei der Amnestie melden. Doch wieder überwog die Angst

„Damals wäre es noch nicht gegangen“, erklärte jetzt ein Richter. Dyntera verkriecht sich weiter, geht in den Wald Pilze suchen und verkauft sie bei guter Gelegenheit, um ein paar Kronen zu verdienen. Im Winter schnallt er Skier an, fährt dorthin, wo er allein und in Sicherheit ist. 1956 hat er eine Venenentzündung, auch die Zähne schmerzen, er kuriert sich selbst, so gut es geht. Ein Glück, daß keine ernsthafte Krankheit auftritt. Seinen Unterschlupf verläßt er bloß in der Dämmerung, bei Nacht. Später unternimmt er größere Ausflüge. Das Leben wird unerträglich, in zehn Jahren kennen ihn weniger Leute, in fünfzehn noch weniger... Und dann kam der Frühling 1968. Doch Mißtrauen, eingewurzelt durch neunzehnjähriges Untergrunddasein, die Furcht ist noch einmal stärker. Dyntera zögert wiederum. Alexander Dübcek gewinnt im Volk jede Stunde mehr Vertrauen. Es fängt ein Frühling an, in welchem Humanität den Despotismus verdrängt. Jaroslav Dyntera beginnt zu hoffen.

Nach fast zwanzig Jahren. Josef Jiränek, Vater und Sohn, steigen eines Tages zusammen mit Jaroslav Dyntera in den Bus. Ihr Weg führt nach Königgrätz zum Gericht.

Dieses Gericht stellt Dyntera eine Erklärung aus, daß ihn niemand belangen kann. Sie ist sein Ausweis bis zu dem Tag, an dem er die Bürgerlegitimation erhält. Dyntera tritt in Üpice eine Arbeit an. Er sagt: „loh spare für einen ordentlichen Anzug, so kann ich nicht herumgehen.“

In Vater Jiräneks Augen schimmert es verräterisch: „Wissen Sie, manchmal ist - dieses Leben schwer. Ich konnte den Menschen nicht im Stich lassen, wußte ich doch, daß er nichts verbrochen hat. Im Krieg habe ich fünf russische Gefangene versteckt. Ein Mensch soll dem anderen helfen, wenn's notig ist!“ Dann senkt sich das ergraute Haupt des sechziTj ährigen Mannes, damit niemand das Schimmern in seinen Augen sieht...

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