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Auf der Landstraße

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Was für Menschen um uns leben, welche Schicksale sich uns auftun, wenn einer von sich zu erzählen beginnt!

Da fuhr ich neulich auf einem offenen Lastwagen die große Straße von Wien nach Westen. Im Zug hatte ich keinen Platz gefunden und so machte ich es wie tausend andere und ließ mich von einem Auto mitnehmen. Die andern Fahrgäste waren ausgestiegen und ich saß allein auf den Eisenstücken, welche die Fracht bildeten. Der Himmel war blau, der Wind sauste mir durchs Haar und ich konnte mich nicht sattsehen an den frischen Saaten und Wiesen,den blauen Hügeln und den fernen Bergen. Etwa 70 Kilometer westlich von Wien bremste der schwere Wagen und hielt. Zwei Männer um dreißig krochen herauf und schon ging es weiter. Einer hatte eine Narbe auf der Lippe und spradi die ganze Zeit nichts, horchte aber aufmerksam auf jedes Wort des anderen, der sich vorerst sein Taschentuch um den Hals wickelte, den alten Gummimantel zumachte und dann zu reden begann:

„Wohin fährst du?“ fragte er mich.

„Bis in die Plaika. Und du?“

„Nach Oberösterreich.*'

Ich will übergehen, was wir zuerst von den Autogeschwindigkeiten sprachen, wie wir auf die Flugzeuge kamen und er von seinen Probeflügen mit dem Düsenjäger erzählte. Von den künftigen Atomautos meinte er, sei das beste, daß Reparatur und Spital mit ihnen überflüssig würden. Wieso? Bei einer Havarie wird nur eine große Staubwolke überbleiben, sonst nichts. Mensch und Maschine werden in Atome zerstückelt. Ein sportsmäßiger Tod. Dann kam er auf das Persönliche zu reden.

„Ich bin ein Heimkehrer, der wieder fortgeht. Ich war nur ein halbe Stunde daheim. Das sind meine Sachen, zwei Ledertaschen voll. Aber ich kam nicht unvorbereitet, längst bevor ich heimkam, erfuhr ich es. Ich habe mich nicht aufgeregt. Wozu? Also, ich geh in die Wohnung und sag: ,Servus, Mitzü' Sie schaut mich so gleichgültig an, als käme ich eben vom Wirtshaus. Dabei haben wir uns seit zwei Jahren nicht gesehen.

„Sei stad, ich weiß alles. Ich mach keinen Wirbel. Gib mir mein Rasierzeug! Ich war seit einigen Tagen nicht rasiert, und das hab' ich nicht gerne.“

Als ich den Apparat herausnahm, sah ich, daß er benutzt war, ich hielt ihn sauberer.

„Ich will die Kinder nehmen, wenn es dir recht ist“, sagte ich.

„Es ist besser, du läßt sie bei mir, sie sind mich gewohnt.“

„Meinetwegen, die Möbel kannst auch haben. Wer ist der andere?“

„Er wird gleich kommen“, anwortete sie.

„Besser wird's sein, ich sehe ihn nicht“, sagte ich und beeilte mich.

„Schau“, sagte sie und sah mich im Spiegel an, „wir haben uns doch nie vertragen.“

Ich wollte keine alten Geschichten aufwärmen. Ganz gleich war es mir natürlich auch nicht, denn daheim ist daheim, aber ich hatte kein Heim mehr. „Wo sind die Kinder?“ fragte ich und mußte mich räuspern.

„Sie spielen draußen.“

„Na, gut! Also leb wohlT

Und sie schloß langsam hinter mir die Küchentür. Auf der Stiege ging einer an mir vorbei, ich glaub, es war der andere. Die Kinder sah ich nicht, das heißt, es spielten Kinder draußen, aber ich kannte die meinen nicht, in zwei Jahren verändern sich doch die Kleinen.

„Habt ihr früher wirklich nicht gut gelebt?“ fragte ich.

„Zeitweise. Als ich auf Montage war, hab ich getrunken. Sie wollte alles so schön wie im Kino haben, aber das Leben ist anders als auf der Leinwand. Als ich sie im letzten Urlaub trösten wollte, weil ihr Bruder gefallen war, sagte sie: ,Die Braven müssen sterben und die andern laufen gesund herum. Verstehst du?' Das Wort hat in mir gefressen. Aber als ich jetzt von ihr ging, da hat es mir geholfen, weil ich es mir oft vorgesagt habe. Nun, ich ging zu Bekannten, machte die Wege zum Gericht, fand auch ein Mädl, das sich mir angehängt hätte, aber ich wollte mich nicht gleich binden, ich will erst sehen, was es mit der im Mühlviertel ist.“

„Dort hast du auch eine?**

„Nach der Entlassung arbeitete ich dort, sie ist die Tochter. Hier ist die Photographie.“

Ein schnippisch lachendes Mädchen saß mit überschlagenen Beinen da. Der mit der Narbe betrachtete es eingehend.

„Die Alte macht Schwierigkeiten. Einem verheirateten Mann gibt sie ihre Tochter nicht. Vom Scheiden will sie nichts wissen. Die Leute dort sind sehr bigottisch. Die Kirche ist alles, das Standesamt gilt nichts. Ich sei auch nur ein gewöhnlicher Arbeiter. Weil ich keinen schönen Anzug hatte. Aber hier schau, die Führerscheine, eins, zwei und drei. Das Werkmeisterzeugnis. Das nennt sie ein gewöhnlicher Arbeiter'. Jetzt werd ich mich um einen neuen Anzug umschauen und beim Haus vorbeigehen. Ruft mich die Junge hinein, ist's gut, ruft sie mich nicht, such ich mir eine andere. Ich habe immer Glück bei ihnen.“

Mittlerweile war es Nachmittag geworden. Die Sonne stand nicht mehr hoch, in der Ferne sah ich den silbernen Strom, bekannte Dörfer flogen vorbei, aber ich war vom Schicksal dieses Menschen mehr beeindruckt. Ich fühlte, daß ich etwas sagen mußte, sonst konnte er glauben, ich gäbe ihm recht. Vor der Plaikamühle hielt der Wagen und wir stiegen aus und gingen weiter.

„Das nennst du Glück haben? Mir scheint dieses eher als ein Unglück, wenn man so . von einem zum andern die Liebe suchen geht und nicht findet.“

„Ja, so zur Unterhaltung für eine Weile habe ich immer Glüdi, aber wenn ich einmal ernsthaft zupacken will, dann geht es schief “

„Ob du dir nicht über deinen Unterhaltungen das große Glück verscherzt hast?“

„Ja, vielleicht müßte man von neuem anfangen, so mit fünfzehn Jahren und in andere Hände kommen. Wer hat sich um mich gekümmert, wer hat mir etwas gesagt? Manchmal fällt mir jetzt mein Großvater ein, er hat anders gelebt. Gut ist es ihm auch nicht gegangen, aber es war anders... ich kanns nicht sagen, wie.“

„Du meinst, er stand in einem festen Geleise, sein Leben hatte eine strenge Form, er glaubte an Gott. . . Denkst du nie an deine Kinder?“

„Manchmal Ich weiß nicht, wie sie aussehen. Ich hätte sie mir doch zeigen lassen sollen. Ich sollte keine Kinder haben.“

Wir waren an der Stelle angekommen, wo der Feldweg von der Straße abbog.

„Hier geh ich hinein“, sagte ich.

„Wohin?“

„Eine schwache Stunde von da liegt mein Vaterhaus.“

„Das muß auch schön sein, wenn man so heimkommt“, sagte er. „Aber wir müssen weiter, gelt?“ sagte er zu dem Stummen. „Servus.“

Ich sah sie noch lange, wie sie mit eingezogenem Kopf weitermarschierten, mit jenem Schritt, den sie alle haben, die auf den Heerstraßen Europas durch sechs Jahre lang herumgetrieben wurden. Und dieses stumpfe Schreiten, in dem Wille und Persönlichkeit erloschen schien, erschütterte mich.

Wohin wird dich dein Weg noch führen? Wirst du dich ganz verlieren oder wirst du mehr an Großvater und Kinder denken?

Primeln und Anemonen blühten auf den Wiesen, wo ich vorbeiging. Die Heimat, die ich in diesem Frühling das erste Mal sah, erschien mir schöner als je und als ich in das alte Bauernhaus trat, fühlte ich mich daheim und unendlich geborgen.

Was ich von dem fremden Mann, der nur eine halbe Stunde daheim war, erzählte, ist nicht erdichtet und auch nicht zurecht-gemadit, sondern wahr und echt, traurig wie die Wirklichkeit. Was weiter mit ihm geschah, weiß ich nicht. Ob ihn das Mädchen ins Haus gerufen hat, als er vorbeiging? Oder vielleicht hat er den neuen Anzug noch nicht. Seine Kinder sind seitdem um einen Monat älter geworden. Sein Rasierzeug wird noch von einem andern benutzt, nehme ich an.

Was für Menschen man auf den Landstraßen trifft! Welche Schicksale, wenn sie zu reden beginnen, wieviel Schuld und wieviel Unglück. Und man kommt an kein Ende, wenn man darüber nachdenkt, sagte mein Bruder, als ich ihm das alles erzählte.

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