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Auf der Suche nach dem zuständigen Leben

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In Brakow, einem märkischen Dorf, wird ein leichtfertiges junges Mädchen ermordet. Der Täter, der reiche Bauer Schwerbes, hat geschickt den Verdacht auf einen Taubstummen gelenkt, einen Außenseiter, der aus dem Rahmen fällt und still in seiner eigenen versponnenen Welt lebt. Die Brakower Biedermänner, besorgt um ihre Ruhe und Wohlanständigkeit, sind nur zu froh über diese Lösung. Und die „neue, gesunde und vorwärtsdrängende Zeit” ist ohnehin gegen die Untüchtigen, die Erb- belasteten, zu denen ja wohl dieser taubstumme Monsky gehören wird. „Säubern”, heißt die Parole verteidigen kann, weil er taub und stumm ist — die Zeugenaussagen gegen ihn sind ja auch so eindeutig —, zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Und im „gerechten Dorf” geht das Leben weiter, das Leben der auf sich bedachten Egoisten und Rechner.

Diese Dinge erfahren wir aus Erinnerungsbildern und Gesprächen der Hauptbeteiligten, die kunstvoll und doch ganz natürlich in das Geschehen eines einzigen Tages, einer Nacht und. eines Morgens, ein Jahrzehnt später, eingeflochten sind. In jene Schicksalsstunden der Brakower, in denen alles aufgedeckt, die ganze Fragwürdigkeit und Brüchigkeit ihres bisherigen Daseins offenbar wird. Der zweite Weltkrieg ist vorbei. Die Russen haben die Berliner Zuchthäuser geöffnet und auch Monsky freigelassen, der nach Brakow zurückgeht und das Dorf verlassen und leer vorfindet. Denn am gleichen Tag haben andere Russen alle Einwohner auf Grund eines Irrtums — „aber Irrtum gibt es nie. Das seht ihr ja. Ihr habt den Mörder da. Ist schon alles richtig, wie es kommt”, heißt es später — fortgetrieben. Nach einem schrecklichen Marsch werden sie abends in eine Scheune gesperrt; alle Anzeichen deuten darauf hin, daß sie ihre letzte Nacht vor sich haben. Da, angesichts des erwarteten Endes, regen sich die Gewissen; die fadenscheinigen Vorwände brechen zusammen; die heimliche Schuld will ans Licht, will bekannt und gesühnt werden. Schwerbes, der anfänglich auszuweichen sucht, rechnet schließlich ehrlich mit sich ab, sieht zum erstenmal seine Tat und ihre bewußte Verschleierung, der Monsky zum Opfer fällt — Monsky, ein armer, hilfloser Mensch — ohne Beschönigung. Er stellt sich den anderen, bekennt den Mord auch dem russischen Kommandanten. Der aber, eine großartige, tiefblickende Persönlichkeit, hat inzwischen erkannt, daß die Austreibung der Brakower auf falschen Voraussetzungen beruhte. „Sie haben das nicht getan, was uns anginge. Sie müssen mit sich selber fertig werden …Mir genügt der Schutt von Tag zu Tag…” So ivird Schwerbes’ Bekenntnis — seltsam genug — der Anlaß zur schnellen Freilassung der Dorfbewohner.

Andere schreckliche Dinge geschehen in jener Nacht. Monsky, durch das verlassene Dorf irrend, findet in Schwerbes’ Haus die Beweise, daß jener der Mörder ist und legt, von der furchtbaren Erkenntnis verwirrt, nicht mehr Herr seines Denkens und Tuns, Feuer im Ort. Eine schaurige, hinreißende Szene:

„Bei dem wild erglühten Dorfe fiel es dem Stummen, dem Gefangenen, dem Freigelassenen und Wahrheitsentdecker von den Augen, von den so lange lauschenden, spähenden Sinnen: Fr empfand den Augenblick als einen allgegenwärtigen, echten, allmächtigen. Er spürte alle Verfolgung dieser Zeit, ohne ihr Namen geben zu können — und er lehnte sich mit höhnischen, herrischen Bewegungen dagegen auf; er wußte um die Sattheit im.

Winkel — und er lachte und zeigte gegen die große Oednis, die das Feuer prägte; er ahnte das niederwälzende Leiden und beklatschte jede rächende Sturmgabe, die roten Triumph verstreute; er begriff den Krieg, die Lüge, die Gewalt, die Ohnmacht — und er warf sich brennend und raubend, schreiend und einsam dagegen an mit Mitteln, die seinen Willen darstellen sollten — den Willen, alles zu benutzen, um alles zu verwandeln.” Hineingezerrt in den Kreis von Brakow wird der Unschuldige nun wirklich schuldig, auch noch durch eine andere furchtbare Tat, die sich im Ge- -folge der ersten ergibt. Wieder klaren Sinnes, weiß er dann, daß Zerstörung des Unzulänglichen und Faulen kein Ausweg, keine Rettung ist. Der einzige, echte und begehbare Weg aus den Verstrickungen, hat der russische Kommandant erkannt, ist der „einer neuen mitleidenden Schau in die Herzen der Menschen und in die Taten derer, denen man sich auch auf noch so lose Weise verbunden fühlt”. Der Weg also heraus aus dem ichbezogenen Denken und Tun.

Monsky und Schwerbes. die vom Schicksal Gezeichneten, haben das erfahren. Großartig die Begegnung der beiden in dem zerstörten Dorf. Noch einige hören den Anruf der Stunde: Dora Manz, der die schreckliche Nacht einen qualvollen Tod bringt, ihr Vater und die alte Bertha, Monskys Pflegemutter, die beide auch umkommen. Die anderen aber, so scheint es, spüren nicht die Verpflichtung, die ihnen aus den Geschehnissen erwächst. Das Leben in Brakow wird weitergehen, nicht viel anders als es vorher war. Man verliert sich sogleich wieder in die eigenen Sorgen und versucht, sich einzurichten in der neuen Lage.

In unvergleichlichen Bildern beschwört Inge Meidinger-Geise diese Kette von Schuld und Sühne und die schmerzhafte Verwandlung eines auf falschem Schein gegründeten Daseins. Die eigentliche Bedrohung des Menschen wird hier nicht als eine von außen, sondern von innen kommende gesehen. Die Vereinzelung, die Ichbezogenheit, die den anderen nicht sieht, verschüttet die Quellen des gültigen, des zuständigen Lebens. Mit großer Sicherheit deckt die Verfasserin die dunklen Hintergründe des Geschehens auf; sie dringt in Tiefenschichten vor, die nur wenige mit so einfachen Mitteln einzubeziehen vermögen.

Auch von der Form her ist das Buch höchst interessant. Die feste Ordnung von Raum und Zeit ist gesprengt, die Handlung nicht in sich geschlossen; nachdem sie plötzlich abbricht, kommt sie auf einer anderen Ebene in verwandelter Form wieder ans Licht. Diese schwierige Technik beherrscht die Verfasserin virtuos, ohne daß sie je mit Raffinessen arbeitet. Ihre Sprache ist klar und sehr einfach, voll Glanz und Poesie. Ein wesentliches, ein außerordentliches Buch! Man darf auf weitere Werke der Verfasserin gespannt sein. •

DIE PILGERREISE DER AETHERIA (Peregrinatio Aetheriae). Eingeleitet und erklärt von Helene Petre. Uebersetzt von Karl V r e t s k a. Bernina- Verlag, Wien-Klqsterneuburg (Volksliturgisches Apostolat). 280 Seiten. Preis 112 S.

Dieser Pilgerbericht einer adeligen Nonne aus der’ Zeit des heiligen Augustinus gehört zu jenen klassisehen Büchern der Christenheit, die keiner Generation ganz abhanden kommen dürfen. Es ist etwas Geheimnisvolles und doch menschlich ungemein Anziehendes um diese pilgernde, fromme und zugleich fraulich-neugierige Nonne, die über Aegypten, Arabien ins Heilige Land wandert, alle biblisch bedeutsamen Stätten besucht, und das alles dann, zugleich mit vielen liturgiegeschichtlich äußerst kostbaren Einzelheiten ihren Schwestern daheim erzählt, dazu in einem lebendigen Latein jener Uebergangszeit.

Daß der Verlag und das um Breiten- und Tiefenwirkung der Liturgie und Liturgiegeschichte hochverdiente „Volksliturgische Apostolat” uns dieses Werk neu geschenkt haben, verdient unser aller Dank. Schön deshalb wird man die Ausgabe warm begrüßen, weil zur Zeit doch im deutschen Sprachraum keine andere Textausgabe zur Verfügung steht (vgl. früher: Religiöse Quellenschriften, Heft 8 5!). Besondere Anerkennung verdient, daß man uns auch den lateinischen Text bietet. Die deutsche Uebersetzung des lateinischen Textes von Karl Vretska versucht mit gutem Erfolg, der Eigenart dieses Latein gerecht zu werden. Einleitung und Erläuterungen sind aus dem Französischen übersetzt (die Originalfassung des Werkes erschien 1948 bei Editions du Cerf in Paris) und enthalten alles Wissenswerte Der kirchengeschichtliche und exegetische Fachmann erlebt in den reichen Anmerkungen die Geschichte der interessanten Erforschung dieses wohl bedeutsamsten Pilgerberichtes aus altchristlicher Zeit mit.

Möge diese vom Verlag auch würdig ausgestattete Neuausgabe jenen breiteren Leserkreis finden, der durch die liturgische Erneuerungsbewegung und die fruchtbare Bibelarbeit .auch für solche früher Fachleuten vorbehaltene Ausgaben aufgeschlossen wurde. Der Preis ist für eine kritische, doppelsprachige Textausgabe mit ausführlichen Erläuterungen und Anmerkungen niedrig. Liturgisches und biblisches Apostolat erfahren durch dieses Buch in gleicher Weise wertvolle Förderung.

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