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Auf neuen Wegen

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Das kulturelle Graz ist keine Stadt der neuen Wege. Hütet es mit Recht alte Tradition, so leider auch Konvention. Um so erfreulicher, wenn einmal einer positiv modernen Kunst Gelegenheit zu Verwirklichung und Erfolg gegeben wird. Dies ist der Fall bei der Aufführung von Luigi Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ im Landestheater.

Pirandellos Werk ist über zwanzig Jahre alt. Bei der großen Wandelbarkeit unseres geistigen Lebens scheint das Wort „modern“ hiefür kaum mehr am Platz. Aber durch die Inszenierung des jungen Gastregisseurs Willi Stary wurde dem Werk aufs neue sein Platz in der Gegenwart erobert. Sie befreite das Werk aus der Kühle der Konstruktion und erfüllte es mit wirklich menschlichen Tönen. Die raffinierte Form war nicht überspitzte Theaterroutine, sondern jugendliches, geglücktes Wagnis und entsprach vollends dem Sinn des Stückes. Denn Pirandellos Werk lebt vom Kontrast, von der grellen Gegenüberstellung zweier Welten, der alltäglichen Gewohnheitswelt — schmackhaft gemacht durch die Darstellung einer Theaterprobe — und dem leidenschafterfüllten Dasein von sechs Personen, die ein Leben leben, zu dem sich kein Autor findet. Denn es ist das Leben schlechthin mit all seinen Grausamkeiten und Häßlichkeiten. denen die Kunst gerne aus dem Wege gehen möchte. Das klingt nach naturalistischer Tendenz. Aber dem Dichter Pirandello ging es um mehr, als um die Verkündigung eines literarischen Programms, und der Regisseur riß den Vorhang noch weiter auf, den Vorhang vor der menschlichen Tragödie, die dieses „Stück, das gespielt werden soll“, bedeutet. Nicht die Anklage gegen die Schauspieler, unnatu- raiiistisch zu spielen, ist das Wesentliche, sondern die Anklage gegen ein verständnisloses Kunstproletariat, das Gewerbe betreibt, statt Menschen darzustellen, das das wirkliche Leben gar nicht mehr begreift, weil es längst gelernt hat, alle Leidenschaft und alle Erlebnisse als theatralisch zu belächeln. Und noch mehr: eine Anklage wider die gleichgültigen Mitmenschen, wie sie überall leben und heute besonders zu gedeihen scheinen, gehärtet am millionenfachen Leid um sich. Sie, die am liebsten hinwegbalancieren möchten über dieses Leben, sehen sich plötzlich schicksalsgetroffenen sechs Personen gegenüber und werden aufgefordert, deren Leben nachzu’ieben. Sie vermögen es nicht. Sie ärgern sich, belächeln und scheuen doch ein wenig diese anderen, bis ein Schuß, der das Leben eines Kindes fordert, sie aus ihrer Gleichgültigkeit herausreißt. Sie halten auch ihn erst nur für einen „Theaterschuß“, bis sie sich entsetzt von der Wirklichkeit überzeugen. Und dennoch — die sechs Personen verlassen die Bühne, sie haben keinen Autor gefunden —, aber die Probe für ein gleichgültiges Stück geht weiter … unbekümmert… das Gewerbe darf nicht Schaden leiden, die Mitmenschen wollen weitervegetieren.

Ausweglos das Schicksal der sechs Personen, ausweglos die Rahmenhandlung von den Schauspielern auf der Probe, fordert das Werk seine Lösung in den Herzerf der Zuseher. Und daß diese Forderung nicht nur eine theoretische — wie bei so vielen Gegenwartsstücken —, sondern eine lebendige wurde, war der Erfolg der jungen Regie.

Aus ganz anderen Seelentiefen ist Emmet Laverys einaktiges Drama „Monsignores große Stunde“ geboren, das als das zweite große Verdienst des Landestheaters in den letzten Spielwochen genannt werden muß. Auch hier mag es im ersten Augenblick unberechtigt scheinen, von einem neuen Weg zu sprechen. Regiemäßig sicher nicht. Die Dichtung selbst ist von heute — 1936 geschrieben —- einschließlich ihrer mehr dialogisierenden als dramatischen Art, womit sie schon äußerlich ihr Herkunftsland Amerika verrät, aber ihr Gehalt, ihr „Friedensprogramm“ — ist es nicht schon so oft verkündet worden? Birgt dieses „Schon-so-oft“, das man hin und wieder als Einwand aktualitätshungriger Theaterbesucher hören konnte, nicht die große Tragik in sich, daß wir immer wieder am Notwendigen und Notwendenden vorbeileben, wie sehr auch die Besten zur Einsicht uns rufen? Es ist ein neuer Weg, den der einfache amerikanische Landgeistliche in diesem Schauspiel weist, wie oft er auch schon erörtert worden sein mag, besser, wäre es nicht ein neuer’Weg, wenn wir selbst ihn endlich gehen wollten?

Keiner vermag das Bild zu enträtseln, das, jahrhundertealt, aber jetzt erst aufgefunden, in einem Saal des Vatikan hängt und den predigenden Heiland darsteilt. „Meinen Frieden gebe ich euch“, steht darunter, aber keiner vermag Seinen Frieden zu finden. Mit schalen Bemerkungen auf den Lippen gehen die Reisenden vorüber, nur der Landpfarrer von jenseits des Ozeans findet keine Schwierigkeit in diesem Gemälde. Im Gespräch mit einem Kardinal fordert er den Frieden, mit erschütternder Selbstverständlichkeit tritt er allen klugen Bedenken desselben entgegen — ein Dialog, der auch um seiner diditerischen Schönheit willen beachtet werden muß —, um schließlich seinen klaren Wunsch an den Papst auszusprechen: nicht an Regierungen gelte es heute zu appellieren, sondern sich an die Völker, an die Menschen selbst zu wenden und allen Gläubigen da Kriegführen zu verbieten, denn, wenn auch Völker bisher in Kriegen ihre Freiheit erkämpft hätten, in einem kommenden würden sie alle ihre Freiheit verlieren. Einzig ein Verbot des bewaffneten Kampfes kann die Menschheit erretten, niemals ein Kompromiß, „sein Name ist Krieg“. Auf den Einwand des „Kardinals“, wenn nun aber alle die Gehorchenden niedergemetzelt würden, antwortet der Landpfarrer: Immer noch würde ihre Zahl geringer ein, als die jener, die der Krieg sonst verzehrte, und — würde es sich nicht lohnen, für den Frieden zu sterben? Seinen Frieden hat Er uns ja in die Herzen gegeben! Da wirft der Kardinal seinen Mantel ab und vor dem erschrockenen Landgeistlichen steht der Papst selbst und lädt ihn ein, vor Kardinalen und Gesandten seine Worte zu wiederholen. Denn auch er sei als Gesandter zu ihm gekommen. Wenn das Schauspiel mit den Worten endet, Gott möge der Welt den Glauben geben, daß sie den Frieden habe, dann ist endlich einmal der Kernsprudi aller Friedenswünsche auszusprechen gewagt worden, daß die Not dieser Welt die Not ihres Un-Glaubeas ist, ihre Heimatlosigkeit, ihre Gottlosigkeit, und daß niemals weltliche Theorien und Pläne, sondern einzig die Kraft des ganzen ungebrochenen Glaubens die Verkündigung vom Frieden derer, die eines guten Willens sind, erfüllen kann.

Nicht zuletzt zeigt uns das Stück jenes andere Amerika, das sich nacht tarnt hinter schreienden Lichtern und geschmacklosem Kitsch, sondern Seele hat, junge, wagende, tapfere Seele eines reifenden Volkes.

Vor diesem Stück stand eine Aufführung von Wildgans’ „In Ewigkeit Arne n“. Der Inszenierung gelang es, das Typische der Charaktere so stark herauszuarbeiten, das man Wildgans nicht nur ab den Dichter dieser immer wieder erschütternden Gerichtshandlung erlebte, sondern auch als großen Menschengestalter erahnte.

Im heiteren Sektor des Grazer Theaterlebens erwies sich Katajew mit seinem „Ruhetag“ (Aufführung im Schauspielhaus) als ausgezeichneter Lustspielschreiber, der Verwicklungen, Kniffe und Situationen alter und neuer Art in sprühendster Laune und zu guter Letzt doch originell zu verknüpfen weiß. Schade, daß vor allem der Bühnenbildner zu wenig da Typische des modernen Rußland aus den ersten Jahren nach der Revolution mit seinen anfänglichen Widersprüchen beachtete, das dem Stück erst die richtige, vom Autor gewollte Atmosphäre gegeben hätte. .

Mit Noel Cowards „Intimitäten“ (Lan- desth’eater) gelang es wieder einmal, das Publikum zu blenden, und Schein für Sinn zu setzen.

Muß man es hinnehmen um des anderen willen? Um jenes anderen willen, das dem Publikum soviel zu geben hätte, aber den meisten noch immer zu „schwer“, wenn nicht gar zu „langweilig“ ist. Aber ganz trostlos ist die Lage nicht mehr. Denn die Neuinszenierung des Pirandello - Stückes schlug wirklich ein. Darüber wollen wir uns freuen. Zeigt das doch, wie man eine Krise überwindet, die niemals nur eine finanzielle ist… Denn — zuletzt kommt es doch auf die andere und ihre Bewältigung an.

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