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Aufforderung zum Zuhören

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Die alte Frage aus meiner Kindheit, die Frage, die man Kindern so gerne stellt: „Was möchtest Du einmal werden?” - Ich habe keine überzeugende Antwort gewußt — damals. Heute wüßte ich eine Antwort. Auf die Frage „Was möchtest du einmal werden?” würde ich sagen: „Ein Zuhörer”.

Seit 1982 arbeite ich als freier Mitarbeiter beim Radio. Seit dem Mai 1984 gibt es die Sendereihe „Menschenbilder”, jeden Sonntag im Programm Österreich 1. Ich hatte das Glück, an der von Hubert Gaisbauer gegründeten Sendereihe von Anfang an mitarbeiten zu können. Über hundert „Menschenbilder” durfte ich inzwischen selbst gestalten, an vielen war ich redaktionell beteiligt. Durch die „Menschenbilder” bin ich dem Wunsch, Zuhörer zu sein, ein wenig näher gekommen.

Rei einem Interview, einem Gespräch für das Radio bin ich der erste Zuhörer. Mir wird etwas erzählt, stellvertretend auch für die anderen (Ra-dio-)Hörer. Mein aktives Zuhören ist gefragt. Mein Zuhören beeinflußt die Art und Weise, in der erzählt wird. Mein Zuhören fordert Genauigkeit, Intensität, Wahrhaftigkeit. Mein Vorbeihören, mein Weghören kann dazu führen, daß viele Räume verschlossen bleiben. Mein aktives Zuhören kann Räume öffnen. Menschen erzählen aus ihrem Leben, sie erkunden noch einmal ihre Lebensräume. Um gleichsam nicht im „Vorzimmer” zu bleiben in einem Leben, ' von dem mir erzählt wird, muß ich genau hinhören. Ich muß die Türen finden, die mich ins Hinterzimmer führen. Ich muß darauf achten, wo die

Sprache des anderen, wo sein Erzählen Räume öffnet, verbirgt. Wenn ich sehr genau hinhöre, dann sind diese Räume auffindbar - die einzelnen Zimmer, die Stockwerke, die winzige Tapetentür. Genaues Zuhören macht ehrliches Sprechen möglich, beziehungsweise zwingend.

Es gibt dieses schöne Wort: Hellhörig. Nicht nur das Dunkle, Schwere gilt es wahrzunehmen, auch das Helle, Transzendente, die Zwischentöne, die den Klang ausmachen.

Hellhörig bedeutet auch: Achte auf die „Dazwischen-Sprache”: Das Zögern, Räuspern, das „Stolpern” beim Erzählen. Die Bewegtheit in der Stimme. Beim Sich-Erinnern kommt etwas in Bewegung. Man sieht es an den Augen, an den Händen, hört es an der Stimme. Etwas kommt in Bewegung, weil der, der erzählt, selbst bewegt ist. Und ich, als sein erster Zuhörer, bin es auch. Wenn Axel Corti beim Reden über seinen Vater ins

Stocken kommt, wenn die Pausen länger werden, wenn sich die Stimme verfärbt - dann öffnet sich hier ein Kindheitsraum, der mich interessiert. Die Pause bestimmt den Rhythmus,' den Klang, die Melodie. „Wie gut dies zu wissen: zu mir kommt einer, der mit mir eine kleine halbe Stunde zu reden - und zu schweigen - weiß” (Albrecht Goes, „Die Mauer und das Wort”). Vielleicht waren die „Menschenbilder”, die ich von Albrecht Goes, Ilse Aichinger, Elisabeth Kübler-Ross, Astrid Lindgren und vielen anderen gestalten dufte, gerade aus diesem Grund so intensiv: Wir konnten - auch - gut miteinander schweigen. Sprache verdeckt gerne. Jahreszahlen, Fakten, Ereignisse aller Art lassen sich gut auf den Tisch legen, so, als wäre damit schon viel gesagt. Die „äußere Riographie” eines Menschen, der herzeigbare Lebenslauf, ist rasch entworfen. Mich interessiert die „innere Riographie”, Und so stimme ich mich vor einem Gespräch für die „Menschenbilder” auf das Zuhören ein. Ich will mir nicht durch hundert bereitgelegte Fragen den Kopf verdrehen lassen. Ich will mir den Kopf frei halten fürs Zuhören. Oft bin ich Stunden vorher am vereinbarten Ort. Ich gehe ein paar Runden, schaue mich um. Ich höre gern zu, lasse mich gern überraschen. Daher ist ein Gespräch für die „Menschenbilder” nie ein Interview im üblichen Sinn. Es ist eine Begegnung. Ich höre zu - und ich darf Fragen stellen, ich habe das Privileg der erlaubten Neugier.

„Ich möchte Glücksspuren legen” - so umschrieb der Verleger Hans-Joachim Gelberg seinen Beruf. Das gilt auch für die „Menschenbilder”. Der Rückblick auf ein Leben als das Erkünden der biographischen Glücksspuren. Wobei dieser Aufruf zur Erinnerungsarbeit, dieses Nachfragen und Zuhören eine durch und durch politische Dimension hat. „Wir müssen uns erinnern können. Das ist ein Gebot der politischen Vernunft und der Verantwortung für die Zukunft.” (Bundeskanzler Franz Vranitzky in einer Rede vor österreichischen Emigranten, im Jänner 1992 in New York). Die „Menschenbilder” geben dem Sich-Erinnern viel Raum. Auch in diesem Sinne bin ich es gerne: ein Zuhörer.

Zuhören heißt es auch am 27. Oktober, wenn eine der wichtigsten österreichischen Schriftstellerinnen der Nachkriegszeit zu Wort kommt.

„Daß man die Kindheit verliert, empfinde ich als gemein. Aber vielleicht ist das notwendig, damit man sie wiederfindet...” Ilse Aichinger in einem „Menschenbild” über den Verlust der Kindheit. Interviews mit der scheuen, zurückgezogen in Wien lebenden Autorin waren und sind überaus selten. Sie, die mit ihren meist kurzen, präzisen Texten, mit ihren Hörspielen, mit ihrem Roman „Die größere Hoffnung” zu den bedeutendsten Autorinnen dieses Jahrhunderts gezählt wird, gibt in Interviews nur zögernd Auskunft über ihr Schreiben, über ihr Leben mit dem Schriftsteller Günter Eich, über die Jahre des Sich-Verstecken-Müssens im Krieg, weil die Mutter jüdisch ist. Zu ihrem 75. Geburtstag wiederholt die Reihe „Menschenbilder” diese Sendung, in der Ilse Aichinger - ungewohnt offen - Rückschau hält. Viel ist da von der Kindheit in Linz und Wien die Rede, von den „Flügeln, Flügen, Verhinderungen”. „Als Kind gehört man zu einem anderen Orden”, so Aichinger. Und: „Den Anfang finden wir nicht mehr, die Sicht der Kindheit, die Orte zu Orte werden läßt und ihnen ihre Namen gibt.”

Menschenbilder: „Flügeln, Flügen, Verhinderungen”. 27. Okt. HUhrOS auf Öl Buchtip: Menschenbilder hg.v. Hubert Gaisbauer und Heinz Janisch, Austria Press 1992.

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