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Aufs Timmelsjoch

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IN DIESEN WINTERTAGEN haben es die Lenker der Omnibusse ins Oetztal nicht leicht. Von der Bahnstation Oetztal hinein in das mehr als 50 Kilometer lange Oetztal ist die Fahrt für einen tüchtigen Fahrer zwar kein Problem. Am Beginn des Tales liegt meist wenig Schnee, denn das Oberinntal zwischen Silz und Pians gehört zu den niederschlagsarmsten Alpengebieten überhaupt, weshalb ja auch die Bade- und Ferienorte Ladis, Serfaus, Obladis, Stanz und Grins sowie das Gebiet um Imst so gerne von Frühjahrs-, Sommer- und Herbstgästen aufgesucht werden. Sonne gibt es da wie kaum anderswo in alpinen Regionen. Auch die Oetztaler Bundesstraße ist weit hinein ins Tal in ausgezeichnetem Zustand, am Beginn etwas schmal und kurvenreich, weiter hinein im Mittelteil jedoch neu ausgebaut und sicher eine der schönsten alpinen Talstraßen Oesterreichs auch in technischer Hinsicht, also für den Autofahrer.

Weiter hinten aber, zwischen Huben (Hubein) und Sölden (1377 m) ist der Ausbau noch in vollem Gange. Bis zum Wirtshaus Aschbach ist die Straße fertig, dann aber, gerade im kritischesten Steilge'lände, bedarf es neuer Straßentunnels und Aussprengungen, die noch nicht beendet sind. Dort aber beginnt just auch jene Region, die schon jetzt mit Winterschnee bedeckt ist, wie es der Seehöhe eben entspricht. Der Fahrzeuglenker hat es also nicht leicht, und es kann darum auch ohne weiteres sein, daß die Omnibusfahrt von der Bahnstation Oetztal bis Obergurgl vier bis fünf Stunden dauert, wenn es eben Winter ist. In Sölden selbst ist die Straße zwar schon neu gebaut und prächtig. Gleich dahinter, gegen Zwieselstein zu, wird sie aber steil, schmal und schwer befahrbar. Von Zwieselstein (1450 m) gabelt sich das Tal. Rechts geht es in das vielleicht schönste Hochgebirgstal Oesterreichs, das Venter Tal, mit einer halsbrecherischen, derzeit^nur > mit Jeeps einiger^ maßen, annehmbar befahrbaren Straße, die auch im Umbau begriffen ist, während links (oro-graphisch rechts) die an sich breitere und bessere Straße durch das Gurgler Tai über Untergurgl (Niedergurgl) nach Obergurgl führt, mit 1910 m Seehöhe das. höchstgelegene Pfarrdorf Oesterreichs und eigentlich sogar der ganzen Alpen, da die an sich höher gelegenen Dörfer der südlichen Walliser Täler wie AroIIa nur Sommerdörfer sind. Nur ist jetzt diese Straße nach. Obergurgl in totalem Umbau begriffen, gleicht weithin mehr einem Sturzacker als einem Fahrweg, und stellt daher bis zur ihrer hoffentlich nicht mehr weit entfernten Fertigstellung an die Fahrzeuglenker allerhand Anforderungen.

IN WENIGEN JAHREN wird auch diese Straße modern und schön ausgebaut sein. Schon heute aber eröffnet sich dem Autoreisenden, wenn er nach Obergurgl kommt, eine herrliche moderne Autostraße alpinen Charakters, die neue österreichische Timmelsjochstraße. Die Seehöhe des Timmelsjochs (manchmal auch Timmeljoch geschrieben) wird in den verschiedenen Karten verschieden angegeben, meist um 2490 m. Auf dem Joch selbst ist eine Tafel angebracht, die 2514 m Höhe angibt. Das Timmelsjoch ist einer der ältesten Uebergänge zwischen Oetztal und Passeier und wird 1825 bereits urkundlich als ein „viel begangener Pfad nach Passeyer“ erwähnt. Das Timmelsjoch ist der einzige nicht vergletscherte Alpenübergang zwischen dem Brennerpaß und dem Reschen-Scheideck. Begreiflicherweise wird es daher schon seit langem als eine Art Brenner-Ersatz betrachtet, obzwar freilich die fast doppelt so große Höhenlage derartige Vergleiche während des größten Teiles des Jahres ausschließt. Denn das Timmelsjoch kann nicht länger im Jahr offengehalten werden als die Großglockner-Hochalpenstraße. Immerhin ist es als weiterer Nord-Süd-Uebergang über den Alpenhauptkamm eben für den Sommerverkehr von erheblicher Bedeutung. Das hat ja auch die beteiligten privaten Interessenten, die Talschaftsgemeinden und auch die öffentlichen Stellen bewogen, diesen gletscherfreien Paßübergang nach Südtirol (Meran) zu einer Hochalpenstraße auszubauen. Diese neue Hochalpenstraße ist nun heuer fertig geworden und hatte auch schon ansehnlichen Besuch.

DABEI IST DIE STRASSE VORERST EIN TORSO. Auf italienischer Seite wurde wohl durch Mussolini in den dreißiger Jahren eine großzügig angelegte Militärstraße gegen Oesterreich begonnen, die die Südrampe der Timmelsjochstraße darstellt. Sie zweigt von der Jaufen-paßstraße in St. Leonhard in Passeier ab und führt bis oberhalb Schönau über Moos. Sie ist dort zweibahnig mit breiten Kehren für Anhängerfahrzeuge, wobei in manchen Kehren Parkplätze für hundert große Militärlastwagen angelegt wurden. Vierzehn Straßentunnels wurden erbaut, einer mit 700 Meter Länge, also eine großartige Straßenführung (bei nur 8 Prozent Steigung). Nach dem Achsenbündnis Berlin-Rom war der militärische Zweck der Straße weggefallen, und so fehlen auf italienischer Seite vorerst noch die letzten zwei Kilometer Straße mit einer Höhendifferenz von rund 200 Metern.

AUF ÖSTERREICHISCHER SEITE hat man gewissermaßen die Italiener ermutigt, dieses fehlende Stück auch noch auszubauen, indem man nun die gesamte Nordrampe bis zur Staatsgrenze modern ausbaute. Die neue Straße zweigt nicht einmal einen Kilometer vor Obergurgl nach links (Südosten) ab, und zwar bei der Einmündung des Königsbaches. In einer schönen Schleife mit prächtigen Lärchen biegt sie von der Nordsüd- in die Südnord-Richtung ein, wobei mit dem Bau einer Seitenstraße nach Hochgurgl begönnen wurde. Auch dem erfahrenen Oetztaler war der Begriff „Hochgurgl“ bis vor kurzem noch unbekannt. Es handelt sich nur um ein Gelände oberhalb Angern, das etwa 100 bis 150 Meter höher liegt als Obergurgl und als Mittelpunkt einer Reihe von Schiheimen und Fremdenpensionen gedacht ist. Vorerst steht davon noch nichts, doch wird sich das bald geändert haben. (Ein gewisser Vergleich mit Hochsölden drängt sich auf, doch ist Hochsölden 700 Meter höher gelegen als Sölden und ungleich schöneren Ausblicks.) Die neue Straße erreicht dann die Angerer Alm bei 2200 Meter Höhe, um von dort wieder etwas abzusinken, damit über Schrofen der Talboden des Timmelstales erreicht werden kann. Hier befinden sich besonders schöne Aussichtspunkte der Straße, und zwar sieht man auf die Südostumrahmung des Venter Tales mit den vielleicht schönsten Gletscherbergen der Oetztaler überhaupt, nämlich der Kette vom Ramolkogel bis zum Stockkogel, mit Blicken dahinter auf die Aeußere Schwarze Schneide (3257m), die Innere Schwarze Schneide (3360 m), vielleicht dem schönsten Gletscherberg Tirols, und die vielen anderen Gletscherberge westlich Sölden.

Die Straße biegt dann scharf rechts (südlich) in den schattigen Talboden des Timmelstales. Der Timmelsbach wird überbrückt und am oro-graphisch rechten Berghang geht es in Kehren empor zum Timmelsjoch. Die Straßenlänge bis hierher beträgt 11 Kilometer. Die Straße hat eine Breite von 6 bis 6 yi Meter und eine maximale Steigung von 10 Prozent. Sie ist also breiter und sogar noch weniger steil wie die Großglockner-Hochalpenstraße. Die Ueberhöhung beträgt von Oetztal (Station) 1794 Meter, von Meran 2170 Meter. Die Straße, die der Timmelsjoch-Hochalpenstraße-AG gehört, ist eine Mautstraße (Mautstelle derzeit am Beginn vor Obergurgl, später soll bei Zwieselstein Mautstelle sein). Die Mautgebühr beträgt 10 Schilling pro Person (Kinder die Hälfte). Auf der Paßhöhe ist ein geräumiger Parkplatz. Sonst ist dort nichts. Aber gerade das berührt ungemein sympathisch. Noch steht dort nicht einmal einer jener landschaftverschandelnden Ansichtskarten- und Andenkenkioske. Wir fürchten freilich, daß uns diese „Errungenschaft“ der Touristik nicht erspart bleiben wird.

NOCH ATMET DAS TIMMELSJOCH DEN FRIEDEN der Natur ohne Menschenhatz und -hast. Steht man dort oben, kann man fast frei von zivilisatorischem Lärm seinen Blick nach Südwesten schweifen lassen zum Bankerferner am Wurmkogel, zur Schermerspitze und anderen Dreitausendern, zu den Stubaiern und hinüber zum Geigenkamm. Man kann auch ziemlich mühelos einige Gipfel beträchtlicher Höhe mit schönen Tiefblicken ersteigen. Gerade dem Bergsteiger unter den Autofahrern eröffnen sich durch diese neue Straße ungeahnte Möglichkeiten.

Vergleicht man die neue Straße mit der Großglockner-Hochalpenstraße, so kann sie an Schönheit der Trassenführung und in ihrem technischen Ausbau jeden Vergleich mit der älteren Schwester aushalten. Zwar sind die Hänge noch nicht gesichert und Steinschlag bedroht die Fahrbahn. Dafür weist diese modernsten Straßen-rauhbelag auf und martert den Motor auch keine konstante Steigung. Die Großglockner-Hochalpenstraße ist natürlich großartiger, schon weil sie ein geschlossenes Ganzes ist, die Tim-melsjpchstraße ist vorerst noch ein Torso. Immerhin ist sie aber eine wirkliche Hochalpenstraße, wie auch die Sustenstraße oder die Gotthardstraße. In Oesterreich kommt sie nach der Großglockner-Hochalpenstraße an zweiter Stelle, denn die Silvretta-Hochalpenstraße bleibt sowohl an alpiner Größe wie auch in ihrem technischen Ausbau noch weit zurück.

Wenn eines Tages auch die Südrampe fertiggestellt sein sollte, wird diese schöne Alpenstraße einen weiteren wichtigen Paßübergang nach Italien für den Freund hochalpiner Pässe darstellen, neben Plöcken und Naßfeld eigentlich der einzige wirklich alpine Straßenpaßüber-gang nach dem südlichen Nachbarstaat.

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