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Aufstände gegen alle Disziplinierungen

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Am 15. Oktober 1844, also vor 150 Jahren, wurde Friedrich Nietzsche in Röcken bei Lützen geboren, am 25. August 1900 starb er in Weimar. Die 150. Wiederkehr seines Geburtstages ist Anlaß zu vielen Tagungen und noch mehr Publikationen — zwei ob ihrer Originalität nicht unwichtige sind hier vorzustellen.

Werner Ross, dessen Nietzsche- Biographie „Der ängstliche Adler“ (1980) längst zum Standardwerk avancierte, legt eine weitere Frucht seiner Forschungen vor. „Der wilde Nietzsche oder Die Rückkehr des Dionysos“ läßt mit einer Reihe von zum Teil nicht unwichtigen Details aufhorchen.

Als Nietzsche im vollen Wortsinn 1889, also im Wahnsinn „wild“ wurde, Unterzeichnete er seine letzten Botschaften mit Dionysos. Aber was da entfesselt losbrach, war wohl in einer lebenslangen Entwicklung herangewachsen — in den hartnäckigen Aufständen gegen alle Disziplinierungen, die ihm das fromme Elternhaus, die Schule, das Studium, die Professur für klassische Philologie und zuletzt die Parteinahme für Richard Wagner abverlangten.

Das Ende der Moral und der Gesetzesreligion - gegen Bürgertum und Christentum gewandt - sollte auch ihn von allen Botmäßigkeiten lösen, um zu einer befreienden Philosophie zu finden. Keine geringe Hilfe erwartete er von der Musik, die keinem Denkmodell und keiner Doktrin zu folgen brauchte. So wurde er auch der Philosoph gegen alle Systeme und Regeln, „wild“ in der Eigenständigkeit seines Denkens. Ohne Zweifel ist die sprachlich und inhaltlich brillante Studie von Werner Ross in hohem Maß geeignet, das Verständnis von Gestalt und Werk Nietzsches (ein ungeheures Ganzes von Philosophie) zu fördern.

Mit der „Wildheit“ Nietzsches beschäftigt sich auch der an der Stanford-Universität lehrende Psychiater Irvin D. Yalom, allerdings nicht in der Form einer wissenschaftlichen Abhandlung, sondern in einem Roman, der in den USA innerhalb kürzester Zeit zum Bestseller wurde. „Und Nietzsche weinte“ handelt von einer fiktiven „Redekur“ zwischen dem angesehenen Wiener Arzt Josef Breuer - besser bekannt als Anreger und Förderer von Sigmund Freud — und dem im Jahr 1882 akut suizid- gefährdeten Nietzsche, dessen Freundin Lou Salome zu Nietzsche auf Distanz gehen will und daher die Psychotherapie als nützlichen Ausweg für alle Beteiligten sieht.

Yaloms Roman beeindruckt durch die ironisch-paradoxe Wendung, indem Breuer bald begreifen muß, daß er Nietzsche nur helfen kann, wenn er sich selbst in seiner Obsession zu „Anna O’.“, die er in Wien ebenfalls in ähnlicher Weise behandelt, helfen läßt. Aus Doppelspiel und beabsichtigter Manipulation erwächst eine Freundschaft, die sich für beide Männer als kathartisch-therapeu- tisch erweist.

Die Faszination des Romans liegt weniger in den zuweilen etwas langatmig wirkenden Dialogen als vielmehr in der Tatsache, daß Yalom viele Gestalten der beginnenden Psychoanalyse einbezieht (so zum Beispiel Anna O., Sigmund Freud, Lou Salome), sodaß die Erzählung fast ausschließlich von historischen Personen lebt, die allerdings in fiktive Beziehungen gesetzt werden.

DER WILDE NIETZSCHE ODER DIE RÜCKKEHR DES DIONYSOS.

Von Werner Ross. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1994.

208 Seiten, geh., öS 23),-.

UND NIETZSCHE WEINTE.

Roman. Von Irvin D. Yalom.

Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. Ernst Kabel Verlag, Hamburg 1994. 370 Seiten, geb., öS 339,-.

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