Aus der Welt gefallen

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Terézia Mora erzählt in ihrem ersten Roman "Alle Tage" von einem Mann, der den Geruch der Fremde in seinen Taschen trägt.

Im Bahnhofsbezirk einer Stadt im westeuropäischen Niemandsland, wahrscheinlich Berlin, baumelt ein schwarz gekleideter Mann kopfunter von einem Klettergerüst eines verwahrlosten Spielplatzes, die Füße mit Klebeband umwickelt, der Trenchcoat bedeckt seinen Kopf - er sieht aus wie ein Vogel oder eine riesige Fledermaus.

Mit diesem Bild eines möglichen Endes von Abel Nema beginnt Terézias Moras erster Roman "Alle Tage", dessen Titel Bezug nimmt auf ein Gedicht von Ingeborg Bachmann, in dem es heißt: "Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden."

Abel Nema kommt aus einem östlichen Land, das es nicht mehr gibt, und hat einen Namen, der Programm ist: Nema, der Stumme, aber auch der Barbar, und Abel (hebr. Hauch, Nichtigkeit), der friedfertige Bruder Kains. Eines Tages verschwindet sein Vater, ohne sich zu verabschieden, und als er seinem Jugendfreund Ilia am Ende der Schulzeit seine Liebe gesteht, verlässt ihn auch dieser. So landet er als liebeskranker 19-Jähriger im Westen, und als die Mutter ihm telefonisch vom Einberufungsbefehl berichtet, wird er zum Deserteur ohne Rückkehrmöglichkeit in die Heimat.

Taumelnd und verloren

Taumelnd und verloren treibt Abel Nema durch die Großstadt, verirrt sich immer wieder im Straßengewirr. Er trifft auf Menschen, die ihm helfen, verlässt sie wieder, gerät an gute und weniger wohlgesonnene Zeitgenossen, findet eine Bleibe für Wochen, Monate und Jahre. Es ist kein Mangel an Frauen, die ihn lieben möchten, so die chaotische Musikerin Klinga oder die Lektorin Mercedes mit ihrem Sohn Omar, mit der er eine Scheinehe eingeht, um zu neuen Papieren und einer Aufenthaltsbescheinigung zu kommen.

Er ist einer der vielen Menschen, die unterwegs sind ohne Geschichte und ohne Zukunft in einem "Jetzt" und "Hier", das im Roman ebenso unbestimmt bleibt wie es präzise unsere Orientierungslosigkeit spiegelt: "Panik ist nicht der Zustand eines Menschen. Panik ist der Zustand unserer Welt."

Abel Nema ist ein hochbegabtes Genie, er bekommt ein Stipendium und lernt allein im Sprachlabor zehn Sprachen, gibt Unterricht, arbeitet als Übersetzer (wie Mora, die kongenial Peter Esterházys "Harmonia Caelestis" ins Deutsche übertragen hat) und spricht ansonsten kaum. Ihm ist die Fähigkeit zu sprechen, zu fühlen und zu lieben abhanden gekommen, er bleibt unberührbar und verschwindet beizeiten. Er spricht perfekt, aber er "spricht wie einer, der nirgends herkommt". Der Anti-Held bleibt ein Fremder, weil er sich selbst nicht kennt und nichts lernt, von einer Katastrophe in die nächste und bisweilen gewaltsame Verstrickung trudelt.

Als Deutsch schreibende Ungarin in Berlin kennt Terézia Mora das Gefühl, "ein bisschen exterritorial" zu sein, wie sie in einem Gespräch zu ihrem hochgelobten ersten Erzählband "Seltsame Materie" (1999) erklärt. Ihre bilderreiche und sinnliche Sprache hat sie in ihrem Roman ebenso weiterentwickelt wie ihre nichtlineare Erzählweise mit schnellen Schnitten und raschen Perspektivwechseln, die auch der Erzählerin Kommentare erlauben und in der Pathos und Ironie ebenso ihren Platz haben wie zahlreiche Anspielungen und Zitate. Kreisförmig entfaltet sich ein Geschehen, das aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird und somit mehrdeutig und mehrstimmig bleibt. Terézia Mora ist mit ihrem Roman das seltene Kunststück gelungen, ein gleichermaßen eigensinniges und poetisches Sprachkunstwerk zu schaffen und einen unvergesslich bleibenden Charakter zu schaffen, der den Geruch der Fremde in seinen Taschen trägt.

Der Panzer löst sich

Ins "Zentrum" des Romans führt das "Delirium", das Abel Nema nach dem Genuss von halluzinogenen Pilzen ein alptraumhaftes Geständnis erzwingt, in dem sich sein emotionaler Panzer lösen kann: "Ich habe mich einfach zu sehr geschämt. Nicht am richtigen Ort, oder am richtigen Ort, nicht der richtige Mensch zu sein. All meine Kraft ging für Scham drauf, von morgens bis abends und auch in der Nacht. Erniedrigende, verzweifelte Scham. Dass ich herkomme, wo ich herkomme. Dass passiert ist, was passiert ist."

Das Ende des verkehrten Bildungsromans führt zum Ausgangsbild zurück. Abel Nema/ Amen ist weder Märtyrer noch Heiliger, er überlebt, verliert aber seine Sprachfähigkeit. Um leben und fühlen zu können, muss er alle zehn Sprachen vergessen, nur mühsam kann er einige Worte in der Landessprache sprechen: "Es ist gut." Wohin ihn diese Worte führen werden, bleibt offen.

Alle Tage

Roman von Terézia Mora

Luchterhand Verlag, München 2004

430 Seiten, geb., e 23,20

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