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„Aus Liebe” gewalttätig

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„Gewalt in der Familie” wird immer nur dann zum Thema, wenn es einen konkreten Fall gibt. Seit rund 20 Jahren ist das der Fall. Wie oft denn eigentlich noch?

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„Gewalt in der Familie” wird immer nur dann zum Thema, wenn es einen konkreten Fall gibt. Seit rund 20 Jahren ist das der Fall. Wie oft denn eigentlich noch?

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Sie werden getreten, verprügelt, mit kochendem Wasser verbrüht, ausgepeitscr angekettet. Sie müssen stundenlang auf Kochlöffeln knien, Durst oder Hunger leiden und zum Abreagieren von Aggressionen oder perversen Lustwünschen herhalten ... Was Kinder in Osterreich alles erdulden müssen, übersteigt mitunter jegliche Vorstellungskraft. So wie jüngst im Falle eines Wiener Ehepaares, das Jahre hindurch seine Adoptivkinder schlecht behandelt, gequält und eines davon zum Schlafen sogar in eine sargähnliche Holzkiste gesperrt haben soll. Die Empörung ist groß, auch Familienminister Martin Barten stein zeigt sich „tief betroffen” (siehe Interview auf Seite 13).

Noch gibt es viele Ungereimtheiten und offene Fragen.

Die Behörden werden daher noch mühsam recherchieren, die Psychotherapeuten noch lange tiefe Wunden behandeln müssen. Monate werden deshalb verstreichen, bevor die Öffentlichkeit vernünftige Antworten auf den empörenden „Fall Maria” erhalten wird.

Aber eines ist schon jetzt klar. Was-hier passiert, ist kein

Einzelfall. Das Ausmaß von Gewalt und Aggression in den eigenen vier Wänden ist erschreckend. Selbst Säuglinge sind Zielscheibe, wie beispielsweise Primarius Georg Spiel, Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Neurologie im Klagenfurter Landeskrankenhaus im Gespräch mit der furche berichtet. Seit vielen Jahren ist er dort mit den katastrophalen Folgen familiärer Gewaltausbrüche konfrontiert. Erst kürzlich hatte er ein Baby zu behandeln, das brutal an die AYand geschleudert worden war. „Infolge dieser Mißhandlung wird es Zeit seines Lebens Mehrfach-behinderungen behalten,” sagt der Arzt.

Es ist bekannt, daß ein nicht unwesentlicher Prozentsatz von Kindern, die in unfall- beziehungsweise kinderchirurgische Kliniken gebracht werden, Opfer von Mißhandlungen innerhalb der eigenen vier Wände ist (Spiel: „Manche Studien sprechen bereits von zehn Prozent der Fälle”). Rund zwei Drittel der Patienten auf den psychiatrischen Stationen österreichischer Spitäler waren entweder sexuellen Ubergriffen ausgeliefert oder haben andere extreme Gewalt-erfahrungen gemacht, die wesentlich zu ihren psychischen Störungen beigetragen haben.

Trotzdem bleibt Primarius Spiel in seinen Statements über die Größenordnungen von Mißhandlungen im trauten Heim eher vorsichtig, denn „wir verfügen in Osterreich leider über keine guten, abgesicherten Studien”. Und Dunkelzifferermittlungen, wie in anderen Ländern üblich, werden in Österreich nicht durchgeführt. Aber eines könne er aus seiner klinischen Praxis mit Sicherheit sagen: „Die Hemmschwellen und Bremsmechanismen sind niedriger

„Das Baby wird infolge der Mißhandlung mehrfach behindert bleiben” diese Entwicklung definiert: Die zunehmende Unsicherheit über den Job, Geldschwierigkeiten und beengte Wohnmöglichkeiten erzeugen Streß und Aggression, die dann an den Kindern oder dem Ehepartner abreagiert werden. Auch das Fernsehen mit seinen zahllosen brutalen Szenen und die Kinofilme mit der Verherrlichung und Ästhetisierung von Gewalt werden als die eindeutigen Ursachen gesehen.

Primarius Spiel warnt hingegen vor allzu schnellen und einfachen Schuldzuweisungen. Es gebe nicht DIE einzige, alles erklärende Ursache. Gewalt in der Familie sei immer die Folge eines vielschichtigen Gefüges von Bedingungen: Das beginne bei Verhaltensstörungen der Eltern und reiche natürlich über materielle Not bis hin zum schädlichen Einfluß des Fernsehens. „Aber das ist jeweils einer von vielen,, kleinen Zwischenschritten und Schienen, über die sich Gewalt aufbauen kann.”

Eines macht die Bekämpfung familiärer Gewaltorgien jedoch zusätzlich schwierig: Viele Eltern, die ihre Kinder prügeln und quälen, vernachlässigen und mißbrauchen, haben kein Unrechtsbewußtsein. Sie empfinden ihren brutalisierten Alltag auch gar nicht als Erziehungsnotstand. Es drückt sie kein' schlechtes Gewissen, sie sehen meist daher auch gar keinen Grund, ihr Verhalten („Ich hab' das Kind doch eh geliebt”) zu verändern.

Neu ist das alles aber nicht: Vor fast genau 20 Jahren hat beispielsweise der Katholische Akademikerverband der Diözese Linz im Bahmen einer Enquete über die empörend hohe Zahl von Kindesmißhandlungen diskutiert.

„Familie als Hort der Gewalt” - das hat seinerzeit für großes Aufsehen gesorgt. Was haben die dort versammelten Experten vorgeschlagen, um die Gewalt in der Familie zu verhindern beziehungsweise einzudämmen?

■ Die Öffentlichkeit muß sensibilisiert werden.

■ Die Wirksamkeit der Strafverfolgung muß erhöht werden.

Die Entwicklung ist darüber offensichtlich hinweggegangen. Denn heute schlagen die Experten dasselbe vor (wie zum Beispiel der Leiter der psychosozialen Dienste in Wien, Chefarzt Stephan Bu-das, vergangenen Mittwoch in einer Hörfunksendung).

Der jüngste Fall von Kindesmißhandlung wird wieder für Fachgespräche, Tagungen, Diskussionen und Empörung sorgen. Soll das so weitergehen?

Wie oft denn noch??

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