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Aus unserem Spradi-Souterrain

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Martin Heideggers Satz „Die Sprache ist das Haus des Seins“ hat mancherlei Schichten, die wir hier keineswegs philosophisch durchwühlen wollen. Er könnte neben dem tieferen sprachphilosophischen Sinn etwa auch besagen, daß die einzelnen Sprachen für die Völker die „Häuser“ sind, in denen sie ihr geistiges Leben verbringen.

Der Österreicher ist ähnlich wie Bayern und Alemannen in der glücklichen Lage — um die ihn viele Mittel-und Norddeutsche, die ihre Dialekte einzubüßen im Begriffe sind, beneiden: er hat eine gebrauchsfähige Mundart. Dadurch bekommt seine Sprache einen ganzen Satz von Registern, die er wie die Register einer Orgel hintereinander oder auch zugleich verwenden kann und die seiner Sprache eine große Geschmeidigkeit und Wandlungsfähigkeit geben. Selbst die einzelnen Spielarten des Österreichischen haben noch eine Fülle von Nuancen, die etwa beim „Wienerischen“, also der Gebrauchssprache des Wieners, von der kultivierten Salon-Umgangssprache über das genäselte Graf-Bobby-Deutsch, das Heurigen-Wienerisch, das „Hausmeisterische“ bis zum „häfen-nahen“ Pül-cher-Wienerisch, auch „Beißerisch“ genannt, reichen.

Tiefe Töne aus dem Souterrain

Das Wienerisch, das der österreichische Nicht-Wiener, also der Provinzler oder „Gscherte“, heute als „typisch wienerisch“ empfindet und daher ablehnt oder nachahmt, ist aber nicht die Sprache Raimunds und Nestroys — daß dieses Idiom manchmal von unerleuchteten Schauspielern oder Regisseuren zur Charakterisierung Nestroyscher Vorstadttypen verwendet wird, ist ein übler Anachronismus —, auch nicht die Weinhebers. Am nächsten kommt ihm die Sprache H. C. Artmanns (med ana schwoazzn dintn), der es außerdem verstanden hat, durch seine geschickte Transskription die unangenehmen Untertöne in ihm nicht dominant werden zu lassen. Freilich ist gerade deswegen fast ein „Hoch-Bradnseeerisch“ daraus geworden, was aber kein Vorwurf ist.

Denn es gibt unter dem Artmannsehen Mezzanin noch ein Souterrain, darunter nur noch die Geheimsprache der Häfenbrüder, der Galeristen. Wir wollen unser Augenmerk vornehmlich dem „Souterrain“ zuwenden, dem Wiener Vorstadtjargon, der daran ist, in einem raschen Vormarsch sein Verbreitungsgebiet weit auszudehnen. Er ist natürlich aus der Wiener Mundart — die ein Glied der niederösterreichischen Familie ist — hervorgegangen und zeigt auch in seiner Struktur und in seinem wesentlichen phonetischen Bestand die Elemente der österreichischen Mundart, hat sich aber im Klang ziemlich weit davon wegentwickelt. Dem völlig Unkundigen den Klang beschreiben, hieße einem Blinden von der Farbe erzählen. Da es aber wenige Leser dieser Zeilen geben wird, die diesen Klang nicht ihm Ohr haben, ist es wohl gestattet, davon zu schreiben. Ich darf daher aber auch auf eine vollständige Phonetik dieser Sprache der „entern Grind“ verzichten und mich darauf beschränken, einige markante Unterschiede gegenüber der gemeinösterreichischen Mundart anzuführen :

a) Die Monophthongierung der Diphthonge „ei“ („ai“), „au“ und „eu“ („äu“). So wird „Teig“ (mundartlich „doag“) zu „daag“, „weit“ su „weed“, „schneiden“ zu „schneen“, „heute“ zu „heed“ und „heulen“ zu „hä'n“.

b) Die Nivellierung des schwach betonten „i“ zu „e“: Aus „dich“ wird „de“, aus „ziemlich“ „zimle“, aus „mit“ „med“.

c) Die häufige Erweichung des „k“ zu „gg“ oder gogoo (Kakao), gox (Koks), agazebam (Akazie).

d) Die häufige Verhärtung des „1“ zu dem „Speilaut-1“ (wie in englisch

„wall“ oder „love“) — man könnte es auch „1 mit Quasterl“ nennen; man formt es am leichtesten, indem man davor ein „d“ andeutet: fdliang (Fliege), ködla (Keller), schdlecht (schlecht).

e) Umwandlung von „o“ zu „u“: fua (vor), flurizduaf (Floridsdorf), duadd (dort).

f) Die Einsetzung eines phonetisch und grammatikalisch unbegründeten „r“ als Gleitlaut zwischen „a“ und Vokal bzw. Nasal: ka r mensch (kein Mensch), karnälie (Canaille), wia r a graazda (wie ein Gereizter).

Und nun einige Sätze: Scheezrechda, zan dedlefaun! (Schiedsrichter, zum Te-

lephon!) Hooz eam de gogooschbrudla r oo! (Haut ihm die Kakaosprudler [= Beine] ab! Doo ham ma se gfreed (Da haben wir uns gefreut); Hoo de zucha, oeda schbeze! (Setz dich zu mir, alter Spezi [= Freund]I) Grää ma r owa! (Klettere mir herunter [= Laß mich in Ruhe]!)

Doch die wesentliche Eigenart dieser Sprache läßt sich phonetisch gar nicht einfangen. Diese Sprache ist Kristallisation einer Lebenshaltung, der Travnicek-Mentalität, sie kann diese Mentalität aber auch erst vermitteln. Und sie ist, wie die Erfahrung zeigt, besonders ansteckend. Sie läßt sich nämlich, weil eines ihrer wichtigsten Merkmale die Mundfaulheit ist, bequem „maulhaben“. Sie verleiht zudem dem Sprecher das Überlegenheitsgefühl des „wissenden“ Großstädters, der mit allen Wassern gewaschen und mit allen Salben geschmiert ist und den nichts erschüttern kann, außer vielleicht eine Niederlage seines Stamm-Fußballklubs.

Wellenschlag aus Wien

Dieses Idiom also, das eine getarnte Weltanschauung ist, breitet sich, wie es scheint, unaufhaltsam rund um Wien aus. Seine Hauptstoßrichtung sind die großen Verkehrswege, sie wirken als Großverteiler. Im Westen ist es weit über St. Pölten vorgedrungen, im Süden dürfte der Semmering den Stei-rern kaum ein sicherer Damm sein, die

Donauufer westlich von Wien sind bis über Krems hinaus überflutet, und die Franz-Josefs-Bahn hat diese Sprache bis nach Gmünd getragen. Die „Pendler“ vergreißeln sie weiter in die Märkte und Dörfer. Für den Fußball vollends ist in diesen Gefilden der Wiener Vorstadtjargon als die Hauptverkehrssprache anzusehen. Klang, Tonfall und Wortwahl der Zurufe auf den Fußballplätzen von Kematen, Amaliendorf oder Fischau unterschei-

den sich wohl kaum von den vergleichbaren Appellen in Hütteldorf, Jedlesee oder Favoriten.

Was aber noch bedenklicher ist: diese Sprache verbreitet sich nicht nur räumlich im ganzen Lande .und um Wien, sie dringt auch in immer neue soziale Schichten ein. Sie ist nicht mehr bloß die Umgangssprache einer Schichte von Jugendlichen industriestädtischer Provenienz, sie ist längst zum vorherrschenden Idiom auch in vielen mittleren Lehranstalten in und um Wien geworden, besonders in den Bubenklassen. In einer ländlichen Realgymnasialklasse habe ich erst kürzlich, anläßlich eines Wandertages, als die im Umgang am häufigsten gebrauchten Redewendungen „Bes deb-baad?“ (Bist du teppert?) und „Gee, schleach de!“ (Geh, schleich dich = Laß mich in Ruhe!) festgestellt, Wendungen, die in Wortwahl und Tonfall durchaus der untersuchten Sprachkategorie angehören. Aber auch ländliche Geschäftsleute und selbst Bauern geraten immer mehr in den Sog dieser Sprache. Sie wird ja gewöhnlich nicht gleich mit allen ihren Finessen übernommen, aber einzelne Klänge setzen sich fest und sind dann kaum noch wegzubringen. Das gilt besonders für die Gebiete, die besonders stark im Wiener Einzugsgebiet, besonders dem Gebiet der Tagespendler, liegen und die durch die Orte Neulengbach, Ter-nitz, Bruck, Zistersdorf, Stockerau und Tulln beiläufig umgrenzt sind. Hier ist, vor allem unter der männlichen Jugend, der vorstadtwienerische Klang vorherrschend geworden.

Eine recht beunruhigende Konsequenz aber ist eine sich daraus ergebende Depravierung der Aussprache des Schriftdeutschen. Trotz verzweifelter Bemühungen der Lehrkräfte sind selbst manche Maturanten in ihrer „Unterrichts“- oder gar Vortragssprache nicht von der Mundhaltung des Jargons abzubringen. Die normale gemeinösterreichische Aussprache des Deutschen erscheint ihnen entweder affektiert oder, wenn sie ein weniger geschultes Ohr haben, merken sie nicht einmal den Unterschied zwischen ihrer Aussprache und der ihrer Lehrer, der Radiosprecher oder Schauspieler. Und nun kann man sogar Rundfunksprecher, Hochschuldozenten, ja sogar Diplomaten von „Amerigga“ und den „Amerigganern“ reden hören.

Sprache der „Funktionäre“

Dieses stark nach dem Vorstadt-Wienerisch getönte Deutsch ist, wie sich jedermann leicht überzeugen kann, im niederösterreichischen Raum zur Standardsprache des Standes der „Funktionäre“ der mittleren und unteren Kategorien in Verwaltung, Politik und Wirtschaft geworden, weshalb man es nicht zu Unrecht als „Funktionärs-Deutsch“ (sprich: „däätsch“) bezeichnet hat. Viele bedienen sich dieser Sprache, um ihre Volkstümlichkeit zu unterstreichen, andere, weil sie sie tatsächlich für Hochdeutsch halten. Auch sie ist in raschem Vordringen, da sie kaum Widerstand findet. Selbst manche Lehrer der verschiedensten Schulstufen haben resigniert oder gar sich, ohne sich dessen bewußt zu sein, dem allgemeinen Trend angeschlossen.

Es soll hier keineswegs einer mundartfreien Hochsprache für den täglichen Gebrauch das Wort geredet werden. Doch ist es wohl notwendig, daß einmal mit dem Finger auf die „Überfremdung“ der gemeinniederösterrei-chischen Mundart — zu der auch das echte Wienerisch gehört — durch Aussprache- und Haltungselemente aus der „unteren Schublade“ Wiens hingewiesen wird.

Mundart ist nämlich keine abgesunkene Schriftsprache, sondern der Jungbrunnen, an dem sich das im Grunde doch etwas künstliche und zur Ausdörrung neigende Gebilde der Schriftsprache immer wieder erfrischen kann.

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