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Ausfall einer Generation?

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Nach dem ersten Weltkrieg gab es auf allen Gebieten des kulturellen Lebens ein junges geistiges Führertum. Frische Kräfte regten sich. Die Ältesten dieser Jungen waren damals höchstens vierzig oder fünfundvierzig. Nach dem zweiten Weltkrieg ist die Situation eine andere: es gibt nur sehr wenig Junge. Wo sie auftauchen, erscheinen sie als Experimentatoren oder schießen raketengleich hoch, wie etwa der junge Wolfgang Borchert in Deutschland, der e i n Stück aus dem erschütternden Leben seiner Generation schreibt, ein paar gute Geschichten daneben, und mit siebenundzwanzig Jahren stirbt. Oder der junge Gottfried Einem, der mit seiner Erstlingsoper .Dantons Tod“, noch nicht dreißig, plötzlich im Vordergrund steht. Wo aber bleiben daneben die anderen Zwanziger und die frühen Dreißiger, die den neuen stärkenden Wind verspüren lassen? Wo in aller Welt, jener der Sieger und jener der Besiegten, stecken sie, keimen wenigstens, lassen an die Zukunft eines gültig Neuen, einer jungen Avantgarde des Geistes glauben? Nicht der Krieg hat gerade sie, auf die wir-umsonst warten, hinweggefegt oder so zermürbt, daß sie keinen Mut zum Bekenntnis ihres Genius, keinen emporhebenden Glauben fänden. Sie, auf die wir nun seit fünf Jahren warten, sind, mit kargen Ausnahmen, einfach nicht da. Nichts stürmt oder drängt, es versucht sich höchstens da und dort in gewagten Experimenten.

Die geistig-künstlerische Führerschaft in unserer Zeit haben die reifen Männer und Greise; und das überall, in allen Bereichen der Kunst und des Wissens. Es sieht aus, als stürbe, sind sie heute oder morgen nicht mehr da, mit ihnen jedes höhere Leben auf unserer atomgefährdeten Welt aus. Werfen wir einmal auf die mächtigen Alten, an deren Spitze bis vor kurzem der 94jährige Bernard Shaw stand, einen Blick. Schauen wir nach Frankreich, wo wir die beiden großen Antipoden ungebrochen, führend und beherrschend durch ihr Wort, am Werk finden: den achtzigjährigen Andre Gide und den noch älteren Paul Claudel. Maurois, Cocteau, Mauriac, um noch drei andere bedeutende Gegenwartsdichter ihres Landes zu nennen, sind ebenfalls keine Jünglinge mehr. Amerikas dichterische Elite befindet sich, mit Ausnahme des elementaren Hemingway, Faulkners und Steinbecks, zwischen dem 60. und 80. Lebensjahr: der bedeutende Dramatiker O'Neill, der verbissene Sinclair Lewis, Thornton Wilder, Englands Eliot, haben den Sechziger überschritten: eine Avantgarde in reifsten Jahren! Italiens großer Philosoph ist ein Achtziger: Benedetto Croce. Und schauen wir nach Deutschland. Da stehen sich als die beiden führenden Dichter unbestritten Thomas Mann, Repräsentant der Emigration und im Lande selbst, als der andere in der Nachfolge Goethes, Hans Carossa, zweiundsiebzigjährig, gegenüber. Da sind die großen alten Philosophen: Heidegger, Jaspers, ein „Jüngling“ von einigen sechzig erst, und der siebenundsiebzig-jährige Rudolf Kaßner, der einsame Wege geht und keine Lehre, kein Dogma aufstellt. Ernst Jünger gehört den Jungen nach 1918 zu!

Wie sieht es im Reich der Musik aus? Im Jahre 1949 starben die beiden Altmeister der deutschen Musik. Gegenpole auch sie, beherrschten sie ihr Feld bis zum letzten Atemzug: der achtzigjährige Hans Pfitzner, der über seiner neuen Goethe-Kantate starb, der fünfundachtzig-jährige Richard Strauß. Als Fünfundsiebziger verbeißt sich Arnold Schönberg, der Schöpfer der Zwölftonmusik, ein Wiener und Emigrant in Kalifornien, in die eisige Situation des Sichselbst-Überlebens. Die Jüngeren unter den Neuen, die man einst „Neutöner“ genannt, haben zumindest das fünfzigste Jahr überschritten: Hindemith, Krenek, Orff, Egkh, Martin, Honegger, Boris Bla-cher, die Russen Strawinsky, Chatscha-turjah und Prokofieff. Die „jüngeren“ Deutschen, wie Orff und Egkh, beschwören eine Revolution herauf, deren Bodensatz nach dem Sturm kräftig und dauernd wie Eisenbeton das Gebäude einer positiv fortschreitenden Kunstentwicklung untermauern helfen wird.

Bezeichnend auch ist die Gegenwartssituation auf dem Gebiet der bildenden Kunst: in der Malerei und in der Plastik. Die verblüffendste, ununterbrochen mit unerwarteten und ungeahnten Uber-raschungen emporlodernde Erscheinung unter den Malern und Graphikern bleibt nach wie vor der sich den Siebzigern nähernde Spanier Pablo Picasso in Paris. Experiment oder Clownerie, fragt sich hier die Welt, worauf zu sagen ist, selbst wenn dem so wäre, wo bleiben die anderen, denen etwas Neues einfiele? Neben Picasso, dem exzentrischen Experimentator und großen Könner auf bildkünstlerischem Gebiet, steht ungebrochen, und gerade achtzig geworden, die absolute Malererscheinung des Henri Matisse. Das perennierende Problem der Gegenüber- und Zusammenstellung reiner, ungebrochener Farbwerte auf neue Weise und mit immer anderen Mitteln liegt ihm an.

Diesen beiden Meistern gesellen sich die späten Sechziger: der visionäre Hexenmeister Marc Chagall, der erdhaft kraftvolle Andre Derrain, Maurice Utrillo, den man seit Jahren bereits gestorben wähnt, der große Meister nobelster malerischer Abstraktion, George Braque, hinzu. Sie alle haben nicht haltgemacht auf dem hohen Kothurn ihrer künstlerischen Errungenschaften. Sie stiegen noch immer steil nach oben, und keiner von ihnen hat efnen Rückfall erlitten, hat sich selbst die Treue gebrochen, wie etwa der alte Chirico in Italien.

Da war vor kurzem noch Aristide Maillol, der fast neunzigjährige Bildhauer im Süden Frankreichs, der in allem, Was er gestaltet, wie kein anderer Bild-hauser seiner Zeit, immer wieder das Lied der Erde gesungen hat, bis ihn, in blinder Wut, zu Ende des letzten Krieges ein Mann der resistance mit einem Hammer erschlug. Rodin war, als er 1917 bei weitem jünger als Maillol starb, ein eigensinniger Greis, mit dem man nicht viel mehr anfangen konnte, wie das Rilke, tragisch berührt, bereits 1911 in einem Brief feststellt. In Belgien, wo kürzlich der Dichter Maeterlinck gestorben ist, auch er fast ein Neunziger, verlosch, ebenfalls in jüngster Zeit, nahezu gleich alt, der gespenstische James Ensor, dessen österreichischer Widerpart, Alfred Kubin, 73jährig, in der ungebrochenen Jugendfrische seines sprühenden Geistes auf dem Tisch des Zeichners- Blatt um Blatt voll skurriler Imagination, daneben Illustrationen um Illustrationen in zauberischen Strichnetzen einfängt. Im Norden Deutschlands ist aus der Verbannung der „entarteten Kunst“, als ein hoher Achtziger, Emil Nolde, phönixgleich aus Asche und Trümmern aufgestiegen und hat sich mit den Schicksalsgenossen in schwerster Notzeit, mit Pechstein und Schmidt-Rotluff unter anderen, zu neuem Werken zusammengetan. Und Kokoschka ist vierundsechzig!

Diese Reihe wäre noch weiter fortzusetzen, würde man die Genies der vordringlichsten wissenschaftlichen Erkenntnisse unserer Zeit der Reihe nach nennen. Nur zwei seien als unumgänglich in unserer knappen Aufzählung genannt: die Beschwörer der Lichtquanten-und Relativitätstheorie: der als Neunzigjähriger im Vorjahr verstorbene Max Planck und der Mittsiebziger Einstein.

Sind diese alten weisen Männer überhaupt Greise zu nennen? Sie sind doch alles eher als vergreist, senil, verkalkt oder gebrochen. Es gärt in ihnen und treibt frische Triebe ihres unverwüstlichen, unermüdlichen, unentwegt neue Ideen ausformenden Geistes! Man kann dieser Tatsache nicht vielleicht entgegenhalten, daß zu Goethes Zeit auch die Greise, er selbst an ihrer Spitze, führend gewesen wären. Er stand in seinem höchsten Alter, einsam ragend, roh gesagt „ein Museumsstück“ unter den Dichtern seiner Zeit, die neben ihm wucherten und ihn nicht mehr verstanden, die ihn ablehnten, bekämpften, lächerlich machten, weil sie ihn weghaben wollten, weil er auf ihr freilich viel kleineres Genie zubreiten Schatten warf.

Heute fallen keine Schatten auf Jüngere, heute weisen die Alten aus der bedrohten Gegenwart weit hinaus in 'eine vielleicht trotz allem eich noch entwirrende Zukunft. Diese zeitlosen, nicht greisen Alten und Älteren sind die brennenden Lichter über uns, die Zuversicht, der Halt, der Anker auf kulturellem und religiösem Gebiet, denn diese beiden können nicht getrennt werden, wie Gerhart Hauptmann, der ebenfalls bis zum letzten Augenblick Schöpferische, der 1946 mit 84 Jahren starb, es in seinem Leitspruch gesagt hat: Kunst i s t Religion! Die Alten überragen das uns einsaugende Kollektiv. Sie tragen allein fast die Flamme der Individualität, sie haben sie aus dem Zeitalter des Individualismus, dem 19. Jahrhundert, dem sie entstammen, herübergerettet. Die schlingenden Strudel des gierigen Zeitstroms vermögen es nicht, sie zu packen und mit fortzureißen. Allein deshalb schon müssen wir ihr Führertum anerkennen.

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