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Ausgereifter Erstling

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Kirsty Gunns Element ist das Wasser, hier beginnt und endet alles: „Der Rest ist Wasser". Aber die Novelle der jungen Autorin ist keine Ophelia-Geschichte. Der da begabt ist für das nasse Element, das ist der fünfjährige Jimmy Phelon, der sich zusammen mit seiner zwölfjährigen Schwester Janey - der Ich-Erzählerin - am liebsten im Gelände am See herumtreibt. Beiläufig sagt Janey zu Beginn: „Das Wasser liebte meinen Bruder zu sehr."

Jedes Jahr verbringen die beiden den Sommer im Haus am See. Der Vater hat es einst nach einer widrigen Gewitternacht ersteigert - in letzter Sekunde, als Hochzeitsgeschenk. Aber die Eltern haben sich auseinandergelebt, die Ehe ist ein Scherbenhaufen.

Pausenlos werden Partys gefeiert, wüste Trinkgelage und Spielernächte, während sich die Kinder verängstigt aneinanderdrücken. Es kommt vor, daß taumelnde Gestalten statt in die Toilette zu den Kindern nach oben schleichen. Anderntags gibt es stinkende Aschenbecher, zerbrochene Gläser, manche Whiskeyleiche auch, und Mutter ist „krank". Janey weiß, diese Babeneltern könnten ihr gestohlen bleiben. Doch der Wunsch, abzuhauen, weit, weit weg, bleibt ein Traum. Sie laufen zum See, flüchten auf grüne Inseln oder entlegene Sandbänke, am liebsten verkriechen sie sich ins Segelboot am Steg. Aber die Anker dürfen sie nicht lichten, Verbot der Eltern. Ach, wer davonsegeln könnte! So phantasieren sie von Robinson-Abenteuern: zwei Jahre Ferien und leben „wie die Wilden".

Erwachsenwerden heißt schwimmen lernen, später auch angeln, genauer: Fliegenfischen. Janey berichtet von ihren Schwimmstunden, und wie sie später ihrem Brüderchen das Schwimmen beizubringen versucht. Und der Vater erzählt Janey, wie er vom Großvater das Fliegenfischen gelernt hat. Das war eine andere Zeit, als aus der Mitte noch ein Fluß entsprang, wie bei Norman McLean, Hemingway und Köpf. Kirsty Gunn ist neben diese wackeren alten Fliegenfischer zu stellen, denn wie sie den im Wasser watenden Großvater schildert, das strahlt einen wehmütigen Zauber aus, der einen glauben läßt: Jetzt kann nichts Böses geschehen, die Großväter und die Enkel werden niemals sterben.

Natürlich kommt es anders: Janey wird von Cady, dem Geliebten ihrer Mutter, ins Gebüsch gezogen. Da passiert es, der unbeaufsichtigte Jimmy schreit aus der Ferne um Hilfe. Am Ende ist mit dem ertrunkenen Jim gleichsam die ganze Familie Opfer des Wassers geworden. Was bleibt, ist die aus der Erinnerung geformte, sehnsüchtige Utopie von zwei Kindern, die im Regen über den Strand tanzen, endlich allein.

Kirsty Gunns zart andeutende Erzählweise läßt vieles ungesagt. Im Kopf des Lesers entsteht erst die eigentliche Geschichte, und diese hat mindestens den doppelten Umfang der gedruckten Seiten. Was läßt sich Schöneres von einem Buch sagen, als daß es auf die Phantasie des Lesers wirklich vertraut?

Dabei hat diese makellose Novelle nichts Preziöses, ihre sanfte Melancholie gründet tief. Kirsty Gunn verläßt sich auf die hohe Kunst des kurzen Vorzeigens und schnellen Verbergens, in der jede kleine Geste perfekt sitzt. „Regentage" ist ein ausgereifter Erstling von großer Eleganz und Raffinesse.

REGENTAGE

Novelle Von Kirsty Gunn Berlin Verlag, Berlin 1995. 128 Seiten, geb., öS 2)3,-

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