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Avantgarde und Boulevard

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Junge Autoren sind selten in Paris. Von Roland Dubülard koninte man ein neues Stück sehen: wiederum klein Leute, die sich mit einem undurchschaubaren Geschick herumschlagen. Im „Jardin aux betteraves“ (im „Rübenacker“ also) sind es die Mitglieder eines Streichquartettes; in einer eigenartigen Volkshochschule sollen sie sich zurechtfinden. Zu geplanter Auseinandersetzung mit dem Außen, dem Oben sind sie nicht fähig; sie zerstreuen sich in kleinlichen Streitereien nach innen, die sie nicht einmal zu ihrer Arbeit, der Probe, kommen lassen. Trotzdem klingt aus dem Stück so etwas heraus wie Beharrungsvermögen, ein leichter Humor des Trotzdem, der dam absurden Druck entgegen runde, ungebrochene Figuren auf die Bühne bringt

Dann spielte man Neues von Arrabal. Die Aufführung wird mäzeniert von einer Art von Verkaufgenossenschaft, die das französische Photageschäft in Unruhe brachte und nun, neben anderen kulturellen Einrichtungen, das Theatre Alpha unterstützt — mit Arrabal ihre Theaterexperimente allerdings wieder beendete: der Zuschußbedarf erwies sich als zu groß. Eine junge Truppe spielte die beiden Einakter: sehr expressiv, dem Living Theatre abgelauscht, mit Schaum vorm Mund, aber unprazise. Sicherlich ist Arrabal immer wieder kräftig in seinen Bildern (hier flüchten einer, dann zwei, drei Leute in eine „Riesenschild-kröte namens Dostojewski“, genießen Glück, abgekapselt von der Außenwelt; oder zeigen, in der „Bestialite erotique“ Liebe vor als Ritual, angetan mit Pferdemasken); aber genauso sicher ist Arrabal chaotisch, unkonkret, Verwirrung eher steigernd als gestaltend. Die Bühne, meine ich, hätte hier eher die Aufgabe, klärend zu inszenieren; hier begnügte man sich mit Spiel mit der Ratlosigkeit.

Nahe beim Kabarett steht ein Stück des Zeichners Wolinski und des Regisseurs Claude Confortes: „je ne veux pas mov/rir idiot“ (loh habe keine Lust, dumm draufzugehen) Fünf Schauspieler gestalten Szenen aus den Tagen des Mai; dazu ein Sänger mit Gitarre, der die Ereignisse freier interpretiert, ab und an aber auch in das Spiel mit einsteigt (Evariste). Die Schauspieler haben wechselnde Rollen, sind in den Ensemblesätzen zu einer Gruppe vereint, beziehen aber sonst soziale Positionen: Patron, der Arbeitgeber also, liberale Presse (weich, kompromißlerisch, perfide), Studentin, junger Arbeiter, Polizist als Vertreter der Macht. Wechselnde Szenen von Unterdrückung und Aufbegehren werden gezeigt; Diskussion über Strategie und Taktik gibt es — recht gut, recht lustig, der Saal spielt amüsiert mit. „Paris wird den roten Himmel seiner schönen Tage zurückfinden“, heißt es; „Wer stahl uns die

freie Sorbonne“, wird geklagt; „Wir werden die Welt ändern — durch Erziehung“, wird versprochen; aber ein starker WM, in Richtung ist aus dem Ganzen nicht ablesbar; es ist Spiel mit den Ereignissen, kein Versuch, sie zu formen. Auch wenn es im Programmheft heißt: „Das Ende des Stückes — das ist nur erst ein Anfang“, so erscheint das eher als Ausrede; man ist enttäuscht, wenn man kritische Stellungnahme, erwartet hatte; auch wenn das Theatre des Artis, (Theater der Künste also!) weit von der Straße abliegt, katakomibenartig herabführt — diese Revolutionäre sind eher Spaßmacher, die ein Pflichtpensum absolvieren; sie werden die Fortsetzung kaum schreiben. Getroffen hat mich allerdings eine Szene: die Spieler zu einer Mauer aufgebaut, als biedere Bürger, den alten Kampfruf umdrehend: „L'imagi-nation ne passera pas“ — Nieder mit der Phantasie! Sie suchte ich ja gerade. Bei den jungen Autoren der Avantgarde war sie kaum zu finden; in der Huchette spielte man seit zwölf Jahren Ionesco („Unterrichtsstunde“ und JKahle Sängerin“ zum 4000. Male!); vielleicht gab es sie beim Boulevardtheater?

Zwar gibt es auch dort den Serienerfolg, man arbeitet ja für ihn (an der Spitze marschiert „Boeing-Boeing“ — im 9. Jahr!): aber der Boulevard hat auch neue Stücke und

— immerhin — attackiert Themen der Gegenwart. Nicht von ungefähr: man möchte ja lachen machen

— und das kann man am besten da, wo man die Zuschauer an ihren Weinen Sorgen packt und sie in den Witz verdreht. So sieht man Abend für Abend im Theatre St. Georges gutsituierte Eltern, Onkel und Tanten, die sich sehr zu ihrem Vergnügen von der Bühne herab bestätigen lassen, daß die Jugend von heute zwar eine andere Sprache (oder besser: Ausdrucksweise) spricht, auch etwas absonderliche Liebhabereien hat (die sie Hobbies nennt), sonst aber die exakte Reproduktion der Elterngeneration darstellt: sich innig liebt, brav heiraten wird (wenn auch nach einigen Schwierigkeiten) und sicherlich auch das elterliche Geschäft mit Bravour weiterführt- Das Ganze hat Marc-Gilbert Sauvajon („Tchao...!“) geschickt angerührt, die prästafoiliert Harmonie (Angestelltensohn heiratet Cheftochter) wird gut verschleiert, man spielt zügig und gekonnt. Die Welt ist in Ordnung, sagt der Boulevard; Sorgen sind Mißverständnisse, über die man lachen darf; man freut sich an ungebrochener Gemeinsamkeit.

Wenig also, so scheint es, von jungen Autoren. Das Theater borgt sie sich; man holt etwa den 1959 verstorbenen Boris Vian wieder hervor. Auch er erzählt, reimti theatert vom Lachen, von einem Lachen aber, das die Welt in ihrer Grausamkeit, Viel-

gestaltigkeit und Entwicklungsmöglichkeit schön findet. Eve Griliquez hat aus seinen Werken ein poetisches Spektakelstück gemixt, aus Gedichten zumeist und Chansons, mit Jazzbegleitung und Projektion von Karikaturen — exakt wurden die Jahre der Liberation nach 1945 getroffen: mit ihrer Unbekümmertheit, aktiven Freude, Sucht nach Neuem — undoktrinär, kritisch, aggressiv —, aber lustig dabei. Die Phantasie lebt — wenn sie auch borgen muß. Jean Louis Barrault fand sie bei Rabelais: Vitalität, Freude und Freiheit sind seine Stichworte im Programmheft — und genau sie findet man auf der Bühne wieder. Ein Welt-Theater-Bilderbogen ist aus dem ungebärdigen Romanwerk einer wilden Zeit ausgeschnitten; mit einer drastischen Geburtsszene fängt es an, der kauzige Tod des Panurge beschließt das Stück; dazwischen aber sind Szenen wilden Humors, theologische und philosophische Dispute, Seefahrten, ferne Inseln mit fabelhaften Bewohnern — all das auf dem großen Spielkreuz inmitten des Publikums in der Sportarena des Elysee-Montmartre vor alten Stichen

und in bunten Phantasiekostümen, durchsetzt mit Tanz und Aufmarsch, getragen von szenischer Imagination und trotziger Daseinsfreude, die sich schnell dem Publikum mitteilt. Man erinnert sich, daß Barrault aus der Leitung eines Staatstheaters (des „Odeons“) entlassen wurde, weil er seine Sympathie mit den studentischen Besatzern vom Mai nicht gut versteckte. Er ist also wieder „freier“ Künstler; die wichtigsten Kräfte seiner Truppe sind ihm auch diesmal gefolgt; und es fällt schwer, in ihrer ersten freien Inszenierung nicht eine direkte Antwort zur Zeit zu sehen.

Bemerkenswert, mit welcher Frische auch Barrault seine Anfänge an der Comedie Francaise (Claudels „Seidener Schuh“) wiederfindet; bemerkenswert, daß er in seiner Odeon-Zeit (trotz vieler guter Leistungen) niemals so direkt den Nerv seines Publikums getroffen hat. Die Kritik war nahezu einhellig begeistert; die Zuschauer strömen — ein nicht alltäglicher Erfolg — in Pariser Theater.

Denn normalerweise haben die Bühnenleute zu kämpfen. Das konnte man besonders deutlich bemerken in einer außergewöhnlichen Aufführung des Theatre Hebertet: „Mon destin moqueur“ (Höhnisches Schicksal) — eine Montage aus Briefen Tschechows. Das Stück basiert auf einer sowjetischen Vorlage; in Moskau wird es seit Jahren mit Erfolg gespielt; auch in Paris baute man auf eine besondere Nähe des französischen Theaters zu dem russischen Dramatiker. Immerhin ist das Publikum durch die Schauspielerfamilie Pitoeff seit Jahrzahnten mit Tschechow vertraut; gerade jetzt spielt der Sohn Pitoeff mit seiner Truppe „Onkel Wanja“; in einem anderen Theater kann man eine Dramatisierung der Tschechowschen „Lady Macbeth“ sehen. Aber es wurde ein Reinfall. Dem allgewaltigen Theaterkritiker des Figaro, J. J. Gauthier, hatte das Stück nicht gefallen; er hatte sich gelangweilt; im 16. und 17. Arrondissement aber ist sein Einfluß entscheidend; das Theater blieb leer und spielt nur seinen Pflichtmonat durch. Man versucht noch, die wenigen Zuschauer an diese andere Art von Theater zu gewöhnen, und diskutiert allabendlich mit ihnen; aber das nützt wenig, obwohl das Theatre Hebertot seit Jahrzehnten für einen hochwertigen, literarischen Spielplan bekannt ist (nennen wir nur Claudel, Montherlant, Peguy, Bernanas). Deutlich aber wird an diesem Extremfall wieder, in wie schwieriger Position sich das Pariser Privattheater befindet — ob es sich nun zum Boulevard oder zur Avantgarde hinneigt. Denn wenn auch die Tschechow-Montage ein eher besinnlicher als mitreißender Theaterabend

war: in diesen Briefen ist doch so viel von persönlichem und politischem Glück die Rede, von Vertrauen auf die Zukunft in einer bedrückenden Gegenwart, von Leistung, die widrigen Umständen abgezwungen wird, von geheimen Parallelen zum Paris von 1969, kurz: von menschlichem und literarischem Wert.

Organisationsform aber, Preise, Anfangszeiten und vielfach auch der Inhalt binden das Pariser Pi-ivatthea-ter an die aussterbende Schicht des müßiggängerischen Bildungsbürgertums, dem vor allem immer mehr die Muße fehlt; zur Reorganisation, Umerziehung des alten Publikums und Heranbildung eines neuen aber fehlt den Privattheatern die Weitsicht, dag Kapital und der volkserzieherische Wille. Um so mehr ist, auch in den letzten Jahren noch, die Wichtigkeit der Volkstheater gestiegen. Sie haben weiterhin viele deutsche Autoren im Spielplan; im TNP erscheint neu „Arturo Ui“ (Robert Hirsch von der Comedie Francaise spielt den Arturo, sicherlich eine bessere Besetzung als Maria Casare, eine der Stützen aus Jean Vilars TNP-En-semfole, für die Mutter Courage in einer Privatinszenierung im Bobino, einer Music-hall); in einem der Pariser Vororttheater kann man „Die Schlacht von Lobositz“ von“ Peter Hacks sehen.

Eine wichtige Erweiterung erhielten die Vollkstheater nach dem Umbau des Sarah-Bernhardt zum Theatre de la Vilie, einem TMP (Theatre Municipal Populaire, einer städtischen Volksbühne also). Jean Mer-cure begann darin vor wenigen Wochen die erste Saison. Viel übernimmt er von Vilars Form des TNP: das Kurzprogramm am Spätnachmittag (Ballett, Orchesterkonzerte, Charles Trenet), früher Beginn der Abendvorstellungen, kostenlose Garderobe (zur Selbstbedienung!), kostenloser Programmzettel, Trinkgeldverbot; für den selben Preis, den man am Boulevard für ein kleines Heftchen mit Reklame und Schauspielerphotos zahlt (nebst Beset-zungiszettel und einigen Bemerkungen zum Stück), erhält man im TMP den kompletten Text des Stückes samt einer kleinen Schallplattes mit einem Gespräch über die Aufführung und Szenenausschnitten. Der Spielplan (Repertoire!) setzte gewichtig ein: Pirandeüo (in Frankreich schon immer eher zu den Klassikern des Theaters gehörig als in Deutschland) mit „Sechs Personen suchen einen Autor“, Shakespeare („Viel Lärm um Nichts“, eine sehr gelabte Inszenierung von Jorge Laveisli), schließlich Sartre: „L'Engrenage“. Regie in diesem Stück führte Mercur-e zusammen mit Serg Peyrat. Sie schonten die große Bühne nicht und nicht die Geräuschkulisse: mit Mascbinenge-wehrschüssen, Detonationen, Alarmsirenen wird man großzügig bedient. Das Thema scheint zeitnah: eine soziale Revolution hat Jean Aguerra an die Spitze des Staates gebracht — aber er macht keine soziale Politik, sondern entwickelt sich zum Tyrannen. Eine neue Revolution stürzt ihn, stellt ihn vor Gericht. In Rückblenden, Sartre schrieb den Text als Filmdrehbuch, wird nun sein Leben gezeigt. Jean Paul Sartre (das Drehbuch wurde 1946 geschrieben! spielt im Programmheft auf die CSSR an; in seinem Stück aber ist die Konstellation derart simpel, daß es peinlich wirkt, wenn die Außenpolitik gegen Schluß mit großer Geste von dem Diktator zu seiner Entschuldigung angeführt wird (was Sartre auch ernst meint!): die Revolutionäre werden dadurch schlechthin dumm, weil sie die Grundtatsache ihrer Politik anscheinend niemals in den Blick bekommen haben. Genauso peinlich waren mir die privaten Szenen der großen Liebe, des Verrats, der Reue und des Bndlich-Verstehens; sie werden überdies hochgespannt theatralisch gespielt wie in einer Tragödie von Racine — die beiden weiblichen Hauptgestalten werden dadurch unerträglich, die schon bei Sartre verfehlte Mischung noch ungenießbarer. Sicherlich wäre es interessant, das Ineinanderwirken von großer Politik und privatem Schicksal zu untersuchen und zu gestalten; Shakespeare konnte das. — Zu loben allerdings das äußere Bild der Aufführung; im TMP wird, wo in diesem Fall nicht glücklich, so doch gutes und solides Theater gearbeitet. Die Pariser Bühne ist reicher geworden!

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