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Avf der Flucht ohne ein Gebotes Land

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Religion, Kirche und Gott sind vielen Jugendlichen fremd geworden. Ein Leben zwischen Angst, Aggression und Gleichgültigkeit.

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Religion, Kirche und Gott sind vielen Jugendlichen fremd geworden. Ein Leben zwischen Angst, Aggression und Gleichgültigkeit.

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Es bedurfte erst gar nicht der Darstellung in einer der letzten Ausgaben einer Tageszeitung, um aus gegebenem Anlaß das gebrochene Verhältnis zu Religion, Kirche und Gott in der zeitgenössischen Literatur zu beschreiben. Es ist auch der Hinweis nicht wirklich erhellend, daß die Gegenwartsautoren großteils aus Semi-narien und Klosterschulen entliefen.

Am Beginn dieses Jahrhunderts beschrieb bereits Frank Wedekind im „Frühlings Erwachen” Mord und Selbstmord unter Jugendlichen. Robert Musil setzte im „Törleß” diese Problematik fort, an die der „Schüler Gerber” von Torberg anschließt. Davor zeigte Odön von Horvath in „Jugend ohne Gott” die Grausamkeit einer jugendlichen Kohorte in den dreißiger Jahren, ein mehr als realistisches Vorspiel des Kommenden.

Es müssen also weder empirische Studien noch andere Analysen vorgelegt werden, um die durch die tiefe Krise im Glauben verursachten Gewaltakte und Autoaggressionen, die dafür Zeugnis ablegende Krise von Kirchlichkeit und „Nachwuchs” zu konstatieren.

Zur Erklärung wurde bislang die Faustregel der fetten Jahre herangezogen, allerdings ohne zu bedenken, daß die mageren Jahre mit Arbeitslosigkeit und Totalitarismus auch nicht mehr jenen Impuls gebracht haben, auf den man gewartet und mit dem man gerechnet hatte.

Weit mehr ist die Beobachtung zutreffend, daß eine stetige Flucht vor Gott seit der Aufklärung stattfindet, zuerst in der Philosophie, dann in der Politik, Kunst und Gesellschaft. Dieser Eindruck ward dadurch erschwert, daß wir wie im Alten Testament am Konflikt zwischen Moses und Aron leiden, zwischen Dekalog und Goldenem Kalb,

an dem die Kirche nicht unbeteiligt erscheint.

Diese Phänomene soziologisch erklären zu wollen, ist selbst schon ein Teil jener Flucht. In Wirklichkeit besitzt nämlich diese Flucht mehr als je zuvor eine theologische Qualität, woran natürlich Theologen nicht glauben. Die Fluchtbewegungen in den Jugendbewegungen der Jahrzehnte unseres Jahrhunderts zeigen an, daß die Fliehenden wissen, daß sie nur in der Flucht ihr Heil finden können, denn Gott ist buchstäblich hinter ihnen her. Sie wissen, daß sie sich zwar Gott stellen, in jedem Augenblick von ihm heimgesucht werden können, aber gerade deshalb riskieren sie die Flucht vor ihm wie eben die Sünde notorisch mehr ist als nur ein Gebrechen.

Die Sünde wider Gott verhilft zur gottgleichen Dämonik, so sagt es der Brief des Apostels Petrus und erstmals gibt es die Chance wie Gott zu sein, freilich in den Formen von Fluchtgöttern. Und sie begegnen uns im Kulturkampf zwischen Hippies und Punks, dem eigentlichen Paradigma kommender Gegenwart. Vielleicht hat Gott selbst seine Verfolgung schon eingestellt, desto mehr

treibt es die Jugend herum und sie flieht. Und die Folgen der Flucht sind in die Gesichter der Fliehenden eingeschrieben. Sie sehen alle zusammen älter aus als sie sind. Wie die Jugendlichen kaum mehr ihren leiblichen Vater kennen, so haben sie auch kein Verhältnis zu Gott mehr, sondern nur mehr zu ihren psychotischen Zwängen.

In dieser Welt der Flucht gibt es daher auch keine Ratschläge oder Besonnenheit mehr, keine Botschaften, sondern nur mehr das Reagieren von Fluchttieren: die Panik und das Rudel im wilden Galopp. Es sind keineswegs besondere Umstände, die in die Flucht trieben, sondern Mißdeutungen von Ereignissen und deren Sinn. Es gibt nur unterschiedliche Formen der Flucht: Tourismus oder Trampen, ein Nomadisieren zwischen Tele-Surfen und Suchen nach Gurus in Hinterindien. Liebe, Güte und Treue sind in die unverbindlich-anonyme Form der Sympathie getaucht und umso haltbarer, je größer die trennende Entfernung zwischen den Menschen.

Nachbarn kennen wir nicht mehr, Mitmenschen überhaupt keine. Der Strom der Reisenden durch die Zeit

findet Niederlassungen und Liebe unerträglich. So stehen Jugendliche zwar im Paradigma der Flucht nach Ägypten oder vor dem Auszug aus Ägypten, doch vor ihnen liegt kein gelobtes Land und keine Verheißung. Grausamkeit und Aggression, Zynismus und routinierte Gleichgültigkeit kennzeichnen eine Jugend, die ihre Wanderungen in Angst unternimmt, in Ungewißheiten oder das Glück in blind geführten Daseinskämpfen wie die homerischen Helden zu erobern hofft.

Die Jugend-Träume sind Spionagen der Angst, die die Seele um die Ruhe bringen. Und so ruhen die Jugend- und Randgruppen, Schul- und Altersklassen, Sub- und Alternativkulturen auf den Domplätzen der alten Städte auf der Flucht und die Kirchen erscheinen ihnen bestenfalls als Schattenspender zu Mittag. Ihre Ängste haben das Böse schon längst motivisch ohne Hoffnung auf Erlösung verbunden, beherrscht von den zahllosen Rache- und Naturgöttern wie in Vorzeiten von Magie und Naturreligion.

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