Toni Morrison: Axt für das gefrorene Meer

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Nicht bequem, aber Lesende reich beschenkend: Ein Plädoyer für Bücher, die wecken - wie die Werke der LiteraturnobelpreisträgerinToni Morrison.

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Nicht bequem, aber Lesende reich beschenkend: Ein Plädoyer für Bücher, die wecken - wie die Werke der LiteraturnobelpreisträgerinToni Morrison.

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Es gibt viele Arten von Literatur und es gibt viele Arten und Gründe zu lesen. Die einen fliehen gerne in Fantasiewelten, die mit der eigenen Welt möglichst wenig zu tun haben, die anderen fliehen dorthin, um eine Auseinandersetzung mit ihrem Leben zu erfahren, die anderen fliehen überhaupt nicht. Die einen genießen Plot und Spannung, lieben und leiden mit den Figuren mit, andere genießen die Sprache und andere plagen sich mit ihr ab - und wiederum andere finden gerade darin den Genuss. Und oft gibt es gar nicht "die einen" und "die anderen", liebt man als Leserin, als Leser das Sowohl-alsauch, oder an manchen Tagen eher dies, an anderen eher das.

Alles Literatur

Die Literatur bietet für all diese Wünsche genug Auswahl: Die Bandbreite dessen, was als Literatur bezeichnet wird, reicht von der anspruchslosen Unterhaltung bis zur haarsträubenden Provokation, von der affirmativen Bestätigung des Althergebrachten bis zur Infragestellung alles angeblich so sicher Gewussten, von Sätzen, die man gar nicht bemerkt beim Lesen, bis zu Sätzen, über die man immer stolpert.

Es liegt an den Lesenden, zu welchem Buch sie greifen -und was dann mit ihnen passiert. Einer der bekanntesten Ansprüche an Literatur zirkuliert in zahlreichen Varianten und bleibt ein wunderschönes, in seiner Radikalität aber kaum zu überbietendes Bild. "Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen", schrieb Franz Kafka 1904 an seinen Freund Oscar Pollak. "Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich."

Wer das Buch als Axt erfahren möchte, ist mit jener Literatur "aus einer Gußform, die uns in eine Gußform bringen möchte"(Daniel Pennac) nicht gut bedient. Man erkennt sie oft auch daran, dass man sie kein zweites Mal lesen muss (und will). Andere Texte machen es einem schwerer und die Texte der Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 1993 gehören dazu.

Zweimal lesen

Toni Morrison, die am 18. Februar ihren 80. Geburtstag feiern wird, wurde in einem Gespräch einmal gefragt, ob man nicht manche ihrer Sätze zweimal lesen müsse, und gab darauf die legendäre Antwort, genau das nenne man lesen. An ihren Büchern lässt sich zeigen, wie Literatur ausschauen könnte, die dazu verleitet, immer wieder zu lesen und dabei zu erfahren, dass der Text nie gleich bleibt und man selbst als Leserin auch nicht. Dass irgendwo Eis bricht. Eine solche Erfahrung kann trotz und gerade wegen der Mühen auch Genuss bereiten und wer sie ausprobieren will, könnte mit Morrisons vielleicht bestem Roman beginnen, mit "Menschenkind", für den sie 1988 den Pulitzerpreis erhalten hat. In diesem Roman ist viel Meer gefroren, und die Axt ist zunächst die Säge einer Mutter, die ihr Kind ermordet.

Sethe ist mit ihren drei Kindern aus der Sklaverei geflohen, hat unterwegs ihr viertes Kind geboren, wird von den Verfolgern eingeholt und schneidet ihrem dritten Kind, einem zweijährigen Mädchen, mit einer Säge die Kehle durch. "Daß jeder hergelaufene Weiße dich ganz und gar und zu allem benutzen konnte, was ihm gerade einfiel. Nicht nur, um dich arbeiten zu lassen, dich umzubringen oder zu verstümmeln, sondern auch, um dich zu beschmutzen. Dich so schlimm zu beschmutzen, dass du dich selbst nicht mehr leiden konntest. Dich so schlimm zu beschmutzen, daß du vergaßt, wer du warst, und daß es dir auch nicht mehr wieder einfiel. Und obwohl Sethe und auch andere das durchgemacht und überstanden hatten, durfte sie niemals zulassen, daß es ihren Kindern angetan wurde."

Geist im Haus

Der Roman spielt Jahre später, die tote Tochter spukt als Geist im Haus und mit dem Auftauchen Paul Ds, einst Sklave auf derselben Farm wie Sethe, setzt eine schmerzhafte Erinnerungsarbeit ein. Zu lernen, sich selbst zu lieben, geht nicht ohne die Auseinandersetzung mit Schuld und Vergangenheit und der Frage: Wie kann jemand Identität erlangen, der jahrzehntelang wie ein Tier behandelt und vermessen worden war. Die Definitionen der weißen Männer haben sich nicht nur in den Körper der Sklaven eingeschrieben (Sethe wächst ein Baum aus Narben auf dem seit Jahren gefühllosen Rücken), sie haben auch innen gewütet. Paul D vertreibt den Geist, doch die Tote kommt als Mädchen in jenem Alter, das Sethes ermordete Tochter nun hätte, als "Menschenkind", zurück. Ihre Anwesenheit ist die gestaltgewordene Erinnerung, die verhindert, dass Sethe so weitertut wie bisher, nämlich die Vergangenheit verdrängen, fernhalten. Indem Menschenkind sie wieder und wieder von damals erzählen lässt, zwingt sie Sethe zur schmerzhaften, aber notwendigen Auseinandersetzung. 4 Andererseits saugt sie ihr damit nach und nach das Leben aus. Die Anwesenheit Menschenkinds ist Segen und Fluch zugleich.

Morrison versucht, den individuellen Prozess des Umgangs mit Schuld und Verletzungen, die Traumata ihrer Figuren in Erzählform zu bringen (traumatische Erinnerung, die verdrängt wird, beginnt zu spuken), ihre Literatur erzählt aber auch, dass ein Individuum nie für sich selbst Identität erlangen kann. Menschen sind immer schon beschrieben: nicht nur die Sklaven von den Sklavenhaltern. Jedem sind die Vorfahren, ist die Geschichte eingeschrieben, auch jeder Körper ist Kulturgeschichte. Morrison verleiht Menschenkind daher nicht nur die Stimme der getöteten Tochter, sondern auch jener Sklaven, die auf den grauenhaften Transporten der "Middle Passage" von Afrika über den Atlantik nach Amerika verschifft wurden. Die Transporte dauerten Wochen und Monate und kosteten Millionen von Afrikanerinnen und Afrikanern Würde und Leben.

Damit betritt Morrison die "Zeitzonen des Verschwiegenen", die sie so interessieren und die man nur durch Imagination betreten kann. Ihre Romane werden zu Recht als erzählerische Versionen des postkolonialen Diskurses bezeichnet. Sie schreibt mit ihren Büchern die Geschichte neu, beleuchtet Szenen aus der Geschichte Amerikas, die sich lange Zeit überhaupt nicht in den Geschichtsbüchern fanden, und greift imaginierend Einzelschicksale heraus, aus jenen Millionen von Opfern, die namenlos blieben, ungezählt und unerzählt. Morrison bringt die Erfahrungen jener Sklaven in traumatisierter Sprache als Flashbacks zum Vorschein: bruchstückhaft und ohne Interpunktion, mit vielen Leerstellen.

Identität und Definierung

Die Frage der Identitätsfindung und die Macht der Definierungen betrifft nicht bloß Sklaven, wenngleich hier zunächst einmal die rassischen Codierungen im Vordergrund des Interesses zu stehen scheinen, die sich oft längst in gängige Diskurse eingeschlichen haben und dort gar nicht als Diskriminierungen wahrgenommen werden. Versklavung muss aber nicht ausschließlich in Hinblick auf die amerikanische Geschichte der Sklaverei gelesen werden: Sethe ist auch nach ihrer Befreiung noch versklavt. Wie zu einem Selbstwertgefühl, zu Zukunft, zu Liebe kommen? Auch Morrisons jüngsten Roman "Gnade" prägen diese Fragen: "Die Herrschaft über andere zu erhalten ist eine schwere Bürde; die Herrschaft über andere an sich zu reißen ist ein schwerer Fehler; die Herrschaft über sich selbst anderen zu überlassen ist eine schwere Sünde."

Identität kann nicht abschließend und sie kann nicht alleine gefunden werden, auch das erzählt "Menschenkind", wenn Paul D feststellt, dass Sethe ihm guttut, weil sie die Stücke, aus denen er besteht, zusammensammelt, und dass er seine Geschichte mit ihrer verbinden will. Toni Morrisons Literatur bezieht durch ihre Art des Schreibens auch die Leser ein in den nicht einfachen und vielleicht auch schmerzhaften Prozess der Suche (nach der Geschichte des Textes, aber vielleicht auch nach der eigenen Geschichte). Was Morrison in einem Interview einmal über ihre Figuren sagte, könnte eventuell auch für ihre Leser gelten: "Es gibt am Schluss stets eine Art von Epiphanie, einen Ort, wo die Figuren sich hinbewegt haben - emotional und intellektuell. Etwas, das das Elend rechtfertigt, das sie durchgemacht haben."

Die Literatur als Zwischenwelt, in der sich die Menschen bewegen in Beziehungsströmen: Im amerikanischen Original heißen der Roman und das Mädchen "Beloved", was auf die Bedeutung von Beziehung verweist. Und wenn am Ende Frauen gemeinsam den Geist, der Sethe aufzufressen droht, mit Gesang vertreiben, werden auch die religiösen Anklänge in Morrisons Literatur deutlich, geprägt von christlichen ebenso wie von afrikanischen Traditionen: "Sie hörten auf zu beten und taten einen Schritt zurück zu den Anfängen. Am Anfang war nicht das Wort. Am Anfang war der Klang, und sie wußten alle, wie der zu klingen hatte."

Im Dunkeln spielen Weiße Kultur und literarische Imagination. Essays von Toni Morrison. Deutsch v. Helga Pfetsch u. Barbara von Bechtolsheim. Rowohlt 1995 125 S., kart., € 6,70

Menschenkind Roman von Toni Morrison Mit einem Vorwort d. Autorin Deutsch v. Helga Pfetsch und Thomas Piltz. Rowohlt 2007 397 S., kart., € 10,20

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