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Babies ausverkauft

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Säuglinge sind sehr empfindlich gegen Lepra. Eine Ansteckung kann frühestens im dritten oder vierten Lebensjahr in Erscheinung treten. Statistisch hat man erwiesen, daß von Kindern, die nicht vor ihrem sechsten Monat den Müttern weggenommen werden, die Hälfte später aussätzig wird. Die Vererbung spielt keine Rolle, nur die dauernde nahe Berührung. In Malokai sind die Kinder der Aussätzigen einige Tage nach der Geburt isoliert und in schönen Heimen in Honolulu bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr aufgezogen worden. Eine dreißigjährige Erfahrung hat gezeigt, daß keines von diesen Kindern aussätzig geworden ist.

Ich tat damals als Arzt Dienst in der Südsee, und meine Pflicht war es, die aussätzigen Frauen nach Möglichkeit zu überreden, freiwillig ihrer Babies zu entsagen. Ich versammelte sie, appellierte an ihre Mutterliebe und bewies ihnen, daß ihre Kinder sicher auch aussätzig werden würden, wenn man sie nicht fortbrächte. Meine wiederholten Predigten verhallten vor tauben Ohren. Plötzlich eines Tages schien ein wunderwirkender Funke sich meiner Worte bemächtigt zu haben, denn mit einemmal erfüllte ein Geist der Opferfreudigkeit sechsundzwanzig Mütter und bewog sie, mir ihre Kinder zu übergeben.

Den Augenblick beherzt beim Schopf fassend, ließ ich die „Basilian“ sofort für den nächsten Morgen acht Uhr reisefertig machen. Die Reling wurde mit Leinwand bespannt, damit kein Säugling von Bord kullern konnte, und sechs Schwestern ernannt, die unterwegs die Pflege übernehmen sollten. Die Ueberfahrt nach Manila dauerte vierundzwanzig Stunden.

Schon lange vor acht waren alle Kinder am Strande. Alles weinte. Die Kinder schrien, die Väter heulten, die Mütter schluchzten, alle Freunde weinten aus, Mitleid mit. Die ganze Gegend hallte wider von Jammergeschrei.. Ich hielt es eine Weile aus, dann rannte ich auf die Brücke und beschwor den Kapitän, abzudampfen, sowie das letzte Kind an Bord sei. Die Taue wurden gelöst, die Maschinenglocke schrillte, wir stampften langsam davon und reduzierten die Zahl der brüllenden Kehlen auf sechsundzwanzig.

Die „Basilian“ qualmte friedlich über die stille Bucht .von Culion. An Deck sah man die Schwestern mit ihren gestärkten Hauben geschäftig hin und wider gehen, Kinder beschwichtigend und fütternd. Ich blickte zufrieden über das anmutige Bild und war stolz darüber, daß ich alles so schön eingerichtet hatte.

Als wir über die Höhe von Coron hinausgelangten, fühlte ich leise etwas Wellengang. Das Schiff schwankte sacht, hob und senkte sich. Und dann passierte das, womit ich nicht gerechnet hatte. Der Englische Kanal ist ein Ententeich im Vergleich zum Chinesischen Meer. Eine Schwester wurde seekrank und verschwand in aller Stille. Eine zweite folgte, dann eine dritte. Schließlich war ich als Junggeselle allein an Deck mit sechsundzwanzig Babies.

Das Schiff fing zu rollen an, und der Seegang wurde schwerer. Aus den Kabinen tönten unmißverständliche Laute, es erhob sich eine Nachfrage nach Eimern. Hie und da schäumte eine Welle über das Verdeck, die Roller wurden immer länger, das Schiff legte sich schief, und ich rutschte nebst Wasser und Babies in die seitlichen Ablaufrinnen. Jeden Augenblick erwartete ich, daß einer meiner Schützlinge über Bord gehen würde. Ich konnte greifen und haschen, soviel ich wollte, es war unmöglich, alle sechsundzwanzig gleichzeitig zu erwischen. Ehe ich mich's versah, rutschten wir schon wieder zurück und landeten im gegenüberliegenden Speigatt. In stilleren Momenten gelang es mir allmählich, die ganze Gesellschaft auf den höher gelegenen Teil des Verdecks zu versammeln, aber obgleich ich beständig nach zappelnden Armen und Beinen haschte, purzelte doch bei jeder Woge wieder eins hinunter.

Das nervenzerrüttende Gekreische der unglücklichen Bälger dauerte von neun Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags. Kein Mensch hatte Lust, mir Gesellschaft zu leisten. Ich blieb allein mit den Dämonen des Meeres und neinem lebenden Billardtisch.

Schließlich tauchte ein Matrose auf. Ich rief ihn heran.

„Ich habe noch nichts gegessen und muß mich einen Augenblick erholen. Passtn Sie eine Weile auf die Säuglinge auf.“

Als mein Gewissen mich nach einiger Zeit wieder in die salzbespülte Kinderstube rief, bot sich mir ein anmutiges Schauspiel. Der Filipino saß platt auf dem Verdeck, je ein Baby unter™ Arm, je ein Baby auf dem Arm, je eins unterm Knie und etliche zwischen den Knien, in der Hand eine Bierflasche mit Milch. Das Maul, das am lautesten schrie, wurde mit dem Flaschenhals gestopft und mußte schlucken. Wenn es genug hatte, wanderte die Flasche ein Maul weiter.

Das Wetter blieb so unwirtlich, daß aus vierundzwanzig Stunden achtundvierzig wurden. Es gab damals noch kein Radio, ich konnte mich also erst von Corregidor aus in Manila anmelden und Aerzte, Schwestern und Wagen an den Hafen bestellen. Als wir endlich an der Mole anlegten, tat ich einen gigantischen Freudensprung, überlieferte die ganze Ladung den entgegengeeilten Pflegern und verschwand in mein Büro. Ich glaubte, das Meinige getan zu haben, indem ich die Säuglinge dem brüllend n Rachen des Ozeans entrissen hatte.

Ich hatte mich aber kaum über den Stapel angelaufener Briefschaften gemacht, als das Telephon schnarrte.

„Hallo!“ rief ich harmlos hinein.

„Hier Krankenhaus. Bitte kommen Sie sofort herüber.“

„Warum denn? Was ist denn los?“

„Wir können Ihre Babies nicht aufnehmen ohne sie zu identifizieren, wir wissen ja keinen einzigen Namen.“

„Oh, das ist ganz einfach. Jedes hat ein Bändchen um den Hals mit einem Täfelchen, auf dem Name, Alter und Lebensgeschichte der Eltern verzeichnet ist.“

„Das mag wohl so gewesen sein, aber wahrscheinlich haben sie vor lauter Hunger die Täfelchen aufgegessen, es sind keine mehr da.“

Mit einem schwachen Seufzer begab ich mich ins Hospital. Die Täfelchen waren tatsächlich weg. Ich nahm ein Baby, drehte es eine Weile herum und erklärte: „Das ist die Pepina de la Cruz“, legte es ab und nahm ein anderes: „Das ist Juan Cabonegro“, und so die Reihe lang fort. Nach dem ersten halben Dutzend wurde es den Schwestern zu bunt, und sie glaubten, ich uze sie.

„Sie denken sich die Namen einfach aus, Herr Doktor.“

„Keineswegs. Schauen Sie doch genau hin.“

Ich hatte auf der langen Fahrt Zeit genug gehabt, mich mit den Säuglingen zu beschäftigen, und hatte vorsichtshalber die Nummern, die sie in meiner Liste führten, jedem auf den Fingernagel gekratzt. Nummer eins war Pepina, Nummer zwei Juan - längst bevor wir Manila erreichten, hatte ich die Liste memoriert und konnte sie vor- und rückwärts hersagen.

Die Kinder konnten freilich nicht auf die Dauer im Krankenhaus bleiben. Sie waren kerngesund, und das Krankenhaus konnte seine Betten besser brauchen. Die Unterbringung im Waisenhaus, die ich im Auge gehabt hatte, stieß auf allerhand Schwierigkeiten. Ich wußte in der Tat nicht, was ich mit der Gesellschaft anfangen sollte.

Da erschien eines Tages ein Reporter des „Bulletin“ und bat mich um eine Geschichte für sein Feuilleton. Ich entschuldigte mich, ich hätte nichts auf Lager. Er setzte sich nur um so fester in seinen Sessel zurück und erklärte, er könne warten.

Da kam mir eine Idee. Filipinos sind närrisch auf Kinder. Wenn man die Sache richtig aufzog, ließen sie sich vielleicht bewegen, meine Säuglinge zu adoptieren. So wurden sie versorgt, und man verlor sie nicht aus dem Auge.

„Gut!“ sagte ich, „Sie bekommen einen Beitrag. Aber nur unter einer Bedingung: er muß auf der Titelseite vier Spalten breit erscheinen.“

Die Zeiten waren gerade mager, und der Reporter willigte ein. Ich erzählte ihm lang und breit von den Babies und stellte ihm frei, alle verfügbaren Rührungsregister zu ziehen, aber in jedem Absatz klar zu sagen, daß die Eltern aussätzig seien ..Schreiben Sie, daß übermorcert um acht Uhr Notare zur Stelle sein werden, um die Urkunden auszufertigen Die Kinder können sofort mitgenommen werden.“

Der Reporter leistete ein sentimentales Meisterstück. Die Abendblätter druckten ihm alles nach und gaben noch ihren Senf dazu. Als ich tags darauf in mein Büro gehen wollte, stieß ich auf eine hundertköpfige Menge nach Säuglingen schreiender Filipinos. Ich bahnte mir eine Gasse und sah, faß die Ausgabe schon flott funktionierte. Urkunden und Bürgschaften wurden gestempel- und gesiegelt. Ich ließ also den Betrieb laufen und verzog mich.

Um zeh-1 Uhr verlangte man nach mir. .,Was gibt's de-m?“

„Dif Säuglinge sind alle weg.“

„pas ist ja großartig, dann ist ja alles in Cvdnung.“

„Aber die Leute wollen nicht gehen. Sie verlangen auch ihre Säuglinge. Man habe ihnen versprochen, sie würden jeder einen Säugling bekommen.“

Ich ging ans Portal. Ein Getöse scholl mir entgegen. „Wir wollen Kinder! Wir wollen Kinder!“

„Liebe Leute“, sprach ich sie an, „wir können beim besten Willen nicht so plötzlich Kinder herstellen. Es sind keine mehr da —“

„Kinder! Wir wollen Kinder!“ jaulte es.

Da kam mir wieder eine Idee. Ich hatte ja noch das ganze Waisenhaus, das längst übervoll war.

Ich hob den Arm. „Schön“, rief ich, „ihr sollt Kinder bekommen. Morgen um die gleiche Zeit werden wir ein ausreichendes Sortiment vorlegen.“

Wir ließen fünfzig Waisenkinder holen. Bis gegen Mittag waren wir schon wieder ausverkauft. Ich richtete in aller Eile ein förmliches Babylager her, mit Regalen und offenen Schubfächern.

Meistens war es den Eltern ganz einerlei wie die gelieferten Kinder aussahen. Sie nahmen sie, ohne viel zu mäkeln, wie aus der Hand der Natur. Aber eines Morgens kam eine Frau mit dem Kind auf der Hüfte zurück. „Ich mag das nicht“, erklärte sie mißfällig.

„Warum denn? Es ist doch ganz niedlich. Was fehlt denn dran?“

„Ich glaube, es hat japanisches Blut. Ich mag keine Japaner.“

„Wie Sie' meinen“, gab ich ihr zurück. „Dann nehmen Sie ein anderes.“ Ich hob es in ein Fach und zog ein anderes hervor. „Wie ist's damit?“

„Ja, das ist fein“, sagte sie und zog ab.

Aber schon nach kurzer Zeit war sie wieder da. Mich verdroß es' allmählich. „Wir können nicht alle fünf Minuten Kinder umtauschen. Was ist denn nun wieder los?“

„Ich hab' für das japanische Kind schon eine ganze Aussteuer gekauft, und die kann ich diesem nicht anziehen, weil es viel zu groß ist “

Ich ging wieder ans Regal, sah ein paar Fächer durch und angelte ein drittes Baby herunter. „Paßt das zu den Kleidern?“

„Ja“, meinte sie, „das wird wohl hineinpassen.“

Ams „Eines Arztes Weltfahrt“, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart

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