6752844-1967_34_16.jpg
Digital In Arbeit

Bär im Käfig

Werbung
Werbung
Werbung

MAN SAGT WEST-BERLIN unc assoziiert Käfig. Nach oben hin offen, ansonsten für die rund 2,2 Millioner Bewohner des westlichen Teiles dei einstigen Viermillionenstadt nur mii wenigen Ein- und Ausgängen versehen. Die Käfigtüren werden vor mehr oder minder weisungsbeach-tenden Bewachern gegen Visagebühren und Ausweisvorlage geöfmel und wieder geschlossen. Daher ziehl man es vor — im innerdeutschen Verkehr subventioniert — zu fliegen, was wiederum die jährliche Millionenfrequenz der Westberliner Flughäfen Tempelhof und Tegel bedingt.

Von Wien aus scheint der ostzonalen „Deutschen Reichsbahn“ und der tschechischen Bahn aber auch (Ost-) Berlin eine Reise mit dem Zug wert •zu sein, und so dleselt denn der von ihnen eingesetzte „Vindobona-Ex-preß“ seit ungefähr sechs Jahren täglich vom Franz-Josef-Bahnhof ab. Trotz Flugzeugsitzen und Strom-linienfagon benötigt man für die 740 Kilometer lange Strecke von Wien über Prag und Dresden nach Ost-Berlin zwölf Stunden, da man zwei Stunden der Fahrzeit für Paß-, Zoll- und Devisenkontrollen mit Aufenthalten in den jeweiligen Grenzstationen zu investieren hat. Die tschechischen und ostzonalen Kontrollbeamten sind jedoch zu den visabenötigenden und daher devisenbringenden Österreichern durchwegs freundlich.

Kommt man in Ost-Berlin an und will weiter nach West-Berlin, wird einem die groteske politische Situation der einstigen Reichshauptstadt sofort unausweichlich vor Augen geführt. Niemandem bleibt es erspart, sich der geheimnisvollen Paßkontrollprozedur beim Übergang Friedrichstraße zu unterziehen. Und trotzdem fühlt man die beneidenden Blicke der herumstehenden und von ihren Westbesuchern Abschied nehmenden Ostberliner: Was für Westdeutsche oder Ausländer selbstverständlich erscheint, nämlich der Weg in den Westen, für Ostzonenbewohner — sind sie nicht Rentner oder Invalide — bleibt dieser, einem Spießrutenlauf gleichende Abfertigungsweg ein Wunschtraum.

VON DEN „GOLDENEN ZWANZIGER JAHREN“ und der kulturellen Weltstadt eines Furtwängler und Einstein, Tucholsky und Brecht blieb wenig übrig. Genies und Künstler haben kaum noch einen festen Wohnort, und schon gar nicht in Berlin. Trotz 20 Theatern, trotz der Berliner Philharmoniker mit Kara-jan an der Spitze, trotz fast 50 Galerien und Professor Höllerers „Literariscnem cjouoquium spncnt mar in West-Berlin von Verprovinziali-sierung und einer gewissen kulturellen Stagnation, an der nicht zuletz' die isolierte Lage, der dreifache Stacheldrahtzaun schuld trägt.

Wirtschaftlich gleicht West-Berlir einem Muskel, der künstlich ernähr' wird, da er funktionsbehindert ist Bevölkerungspolitisch ist Berlin eine „sterbende Stadt“ mit 270.000 Wit-

Aren, Darüber kann auch Kurfürsten-iammgetriebe in den Stoßzeiten mit ;iner demonstrationsfreudigen und nodisch-betonten Jugend nicht hinwegtäuschen. Die sonntägliche Flucht linaus ins Grüne gleicht einer Massenwanderung mit Kind und Hund in die Grenzen der Freiheit.

Berlin ist eine politisch interessante Stadt für Touristen und Kommentatoren, für die Berliner selbst ist es eine Lebensaufgabe, »ine Schicksaitegefährtin, mit der man in den letzten Jahrzehnten Auf-3lühen, Niedergang und Neuerste-rtung miterlebte. Das verbindet, und man hält ihr die Treue.

Berlin wurde im Krieg zu zwei Dritteln zerstört. Heute werden Ruinengrundstücke, abgesehen von verödeten Gebieten in Mauernähe, allmählich rar. West-Berlin ist fast vollständig wiederaufgebaut; man beginnt bereits mit der Altstadt-(soferne es so etwas überhaupt gibt) Sanierung. Architektonische Groß-

leistungen wurden gescnairen, wie beispielsweise das von den bekanntesten Architekten unserer Zeit erbaute Hansaviertel am Tiergarten, das Le-Courbusier-Haus, Philharmonie- und Kongreßhalle, aber der Großteil der Neubauten ist standardisierter Nachkriegsstil. Er läßt kein atmosphäreschaffendes Traditionsgefühl aufkommen, so daß West-Berlin einen kühlen, sachlichen, oft sterilen Eindruck macht.

DURCH DIE POLITISCH BEDINGTE TEILUNG der Stadt (Fläche von West-Berlin 480 Quadratkilometer, von Ost-Berlin 403 Quadratkilometer, Einwohnerzahl West-Berlin 2,2 Millionen, Ost-Berlin 1,06 Millionen) mußte sich West-Berlin ein neues Zentrum schaffen. Fast von selbst bot sich hierfür — der Ruinenstumpf der Wilhelm-Gedächtniskirche an. Wo einst schräg gegenüber im berühmten „Romanischen Cafe“ die Literaten und Künstler aus und ein gingen, erbaute man auf Ruinengrundstücken das Europa-Center. Wem Repräsentation etwas bedeutet, der ist hier etabliert: Fluggesellschaften, Mode- und Möbelboutiquen, „Daddy“ Blatzheim mit seinen stilverirrten Restaurant- und Kaffeestuben, Wein-, Bier- und Nürnber-gerlokalitäten, das Kabarett der „Stachelschweine“, ein Eislaufplatz, eine Dachgartengalerie usw. Im 20stöckigen Hochhausteil sind nicht nur eine Mannequinschule der Ex-Miß-Deutschland Susanne Erichsen, Studios und Büros untergebracht, sondern auch ein Dachcafe und Aussichtsrohr, so daß man für eine D-Mark pro Person in Ermangelung irgendeiner Bodenerhebung Berlin auch aus einer Höhe von 86 Metern auf sich wirken lassen kann. Am höchsten Punkt des Gebäudes dreht sich Tag und Nacht und von überall sichtbar, symbolträchtig und überdimensional, ein Mercedes-Stern.

In unmittelbarer Nähe des Europa-Centers wurden im letzten Jahr weißverkleidete Appartementhäuser, Hotels und Höchstmieten-wohnhäuser errichtet. Die Begrenzung für diese teure Sachlichkeit bildet der, nach wie vor auf seinem alten Gelände befindliche, Zoo. Er ist das Zentrum fürs Herz, die Endstation, „Trost“ für viele einsame Damen der älteren Generation. Denn das Schicksal dieser Stadt hat auch die Menschen geprägt. Vielen Gesichtern stehen noch Bombennächte, Verlust von Familienangehörigen und die Blockade in den Zügen geschrieben. Dies alles und die Aversion gegen Mauer und Eingesperrtsein kompensiert die Vorkriegsgeneration mit nicht versiegender Tierund Berliriliebe.

RUND 4000 ÖSTERREICHER LEBEN in West-Berlin, davon mehr als 50 Professoren, viele Jungliteraten und freischaffende Künstler, darunter der erfolgreiche Architekt

Franz Heinrich Sobotka. Zusammen mit seinem Kollegen und Landsmann Prof. Gustav Müller (er studierte bei Prof. Holzmeister in Wien) prägte er das neue Stadtbild West-Berlins mit und schuf, wie es heißt, südlichen Charme ausstrahlende Bauten, wie die Freie Universität Berlin, die Börse, unzählige Wohn-, Geschäfts- und Industriebauten, eigenwillige Hochhäuser und Hotels. Erst im Vorjahr wurde nächst der Gedächtniskirche ein 400-Woh-nungen-Projekt (mit jeweils dazugehörigem Parkplatz) und das direkt an der Mauer errichtete 50-Millionen-D-Mark-Objekt des Axel-Springer-Verlagshauses fertiggestellt. Den Anteil seines Büros am Wiederaufbau des westlichen Stadteiles gibt Architekt Sobotka, der in Wien an der Akademie für Angewandte Kunst bei den Professoren Josef Frank, Oskar Strnad und Josef Hoffmann studierte, mit rund 6 Prozent an. Vor elf Jahren zeichnete ihn Dr. Schärf mit dem Professorentitel aus.

In Berlin ist Architekt Sobotka, der „gelernte Berliner“, Initiator für Kontakte der Österreicher untereinander. Vor fünf Jahren gründete er den „Austria Club“ (daneben existiert der „Verein der Österreicher“), und noch in diesem Jahr wird von ihm, er ist ein begeisterter Kunstsammler, ein „Österreichhaus“ in West-Berlin gebaut werden, in dem eine „österreichische Galerie“ eröffnet werden soll.

Die Sammlung österreichischer Künstler wird jedoch ausschließlich Bilder und Plastiken des 20. Jahrhunderts umfassen. Als ausstellende

Gäste beabsichtigt der Hausherr vor allem Künstler aus dem Donauraum, der Tschechoslowakei und Polen vorzustellen.

EINE BELEBUNGSSPRITZE für die noch immer öde wirkende „Mauer“-Umgebung im Westberliner Bezirk Kreuzberg bedeutet das vor einigen Monaten eröffnete Verlagsund Pressehaus Axel Springers. Es ist gegenwärtig das größte Zeitungsdruckhaus Kontinentaleuropas, 2000 Mitarbeiter und zehn Rotationsmaschinen schaffen hier eine tägliche Auflage von 800.000 Exemplaren der dem Ostzonenregiime verhaßten Springer-Blätter (die aber auch im Westen ihre Gegner haben).

Die Grundidee des Bauherrn und Pressekonzemibesitzers Springer für diesen Bau (der in einer Arbeitsgemeinschaft der beiden Architekten Sobotka-Mülier mit zwei Mailänder Architekten entstand) war, jenes traditionsreiche Berliner Zeitungs-viertel, das zwischen Koch- und Zimmerstraße vor der Machtergreifung Hitlers und somit der Gleichschaltung der Presse Weltruf hatte, neu erstehen zu lassen. Auf diesem Boden, wo 1945 nur Schutt und Ruinen zurückgeblieben waren, hatten die „großen Drei“ ihrer Zeit, Scherl, Mosse und Ullstein, Pressegeschichte gemacht. Hier erschien, neben mancher anderen, die schnellste Zeitung der damaligen Zeit, die „BZ am Mittag“, und Ullsteins „Berliner Illustrierte“ trat von da aus ihren Siegeszug zur größten Zeitschrift des Kontinents an. Heute werden die vier Tageszeitungen „Berliner Morgenpost“, „BZ“ („Berliner Zeitung“), die Berliner Ausgaben von „Bild“ und „Die Welt“ sowie die Wochenzeitung „Welt am Sonntag“ neben verschiedenen Fachzeitschriften in dieser Zeitungsburg direkt an der Mauer gedruckt.

Die Westberliner sind leidenschaftliche Zeitungsleser. Täglich kauft sich eine Million Menschen ihr Blatt. Und so sehr Springer das westdeutsche und Berliner Pressewesen in den letzten Jahren ankurbelte, mehren sich die Stimmen gegen sein „Meinungsmonopol“. Das Ende Jänner in West-Berlin erstmals erschienene „Extrablatt“, herausgegeben von jungen, auf eine ostzonenfreundliche Politik abzielenden Intellektuellen, schreibt in diesem Zusammenhang von einem „Verdorren der Presse“ und stellt fest, daß der Springer-Konzern bereits 68 Prozent die Berliner und 40 Prozent der gesamten westdeutschen Tagespresse „kontrolliere“.

BERLIN IST KEINE STADT, die zum Verweilen und Genießen einlädt. Kommunistische und kapitalistische Welt sind hier durch eine Mauer getrennt, die ein Reizklima schafft, das zu ständiger Stellungnahme auffordert

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung