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Ballets de Paris und Wiener Opernballett

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Während des letzten Wochenendes trat dal Ensemble der „Ballets de Pari“ dreimal in Her Volksoper auf und zeigte zwei Programme mit insgesamt fünf verschiedenen Tanzschöpfungen. Der Direktor der Truppe, ihr Choreograph und erster Tänzer, ist der 32jährige Roland Petit. Die Stationen einer künstlerischen Entwicklung und Karriere heißen: Ballettschule der Pariser Oper unter der Leitung Serg Lifars, Soloabende im Theätre Sarah Bernhardt, aus denen sich die Vendredis de la Danse entwickelten, Einzug mit einer läköpfigen Truppe im Theätre des Champ Elisees und schließlich, 1948, Gründung der „Ballets de Paris“ in ihrer heutigen Struktur und Uebersiedlung ins Theätre Mirigny. Inzwischen hat Roland Petit Hunderte von Auslandsgastspielen absolviert und war, kurz nach der Neugründung, auch in Wien. In jenen ersten Jahren wirkten die Darbietungen von Roland Petit geradezu sensationell, obwohl er noch viel mehr mit klassischen und konventionellen Elementen arbeitete. Aber es gelang dieser Truppe, der sich bald führende Pariser Maler und Komponisten gesellten, im Theätr Marigny eine neue Gesellschaft zu versammeln und damit die Tradition der Ballets de cour fortzuführen. Nach dem Abwirtschaften kunstfeindlicher und reaktionärer Regierungssysteme, nach dem völkertrennenden Krieg und den Elendsjahren darnach trat hier etwas Neues ans Licht. Diese Neue war international, kühn, luxuriös und „modern“ bis zum Snobismus. (Dieser Zug zum gesellschaftlich Exquisiten und Mondänen zeigte sich auch in der Zusammenarbeit Roland Petits mit der Pariser Haute conture, insbesondere mit Jacques Fath.)

Ein Abend der „Ballets de Paris“ besteht aus drei oder vier größeren Tanzschöpfungen. Die Sujets, vom Leiter der Truppe oder von namhaften zeitgenössi-chen französischen Dichtern erfunden, tind oft hintergründig und bizarr, aber immer originell, nach der Parole: Tous les genres ont permis sauf le genre ennuyeux. Einige Beispiele:

Der Wolf. (Handlung von Jean Anouilh, mit einer klanglich, rhythmisch und ausdrucksmäßig faszinierenden Musik von Henri Dutilleux. ausgestattet von Carzou.) Am Hochzeitstag entflieht der junge Ehemann, der sich zum Schein in einen Wolf verwandeln ließ, mit einer Zigeunerin. Die junje Frau folgt dem, den sie für ihren Mann hält, der aber in Wirklichkeit ein echter Wolf ist. Allmählich fühlt sie ich zu diesem (eine Variation de Thema „La Belle et la Bete“) hingezogen. Von den Dorfbewohnern gejagt, werden beide erschlagen.

Da Zimmer. (Handlung von Georges Simenon, Musik von George Auric, Ausstattung von Bernard Büffet.) Ein rechteckiges Licht in einem Stück Nacht: ein Fenster. Und im Hintergrund, gegenüber: ein zweites Fenster, durch welches das Schicksal hereinbricht. Ein Zimmer, in dem man lebt, liebt, leidet und tirbt und in dem ein Mord geschieht. Sujet und Atmosphäre ind die eines Grand-Guignol-Stückes.

Carmen. (Nach Merimee, mit der Musik Bizet, Ausstattung von Antoni Clave.) Eine eigenwillige Variation des bekannten Themas.

24 Stunden Trauerkleidung. (Handlung von Roland Petit, Musik nach älteren Gassenhauern, wie La Matchiche und Valse Bleu). Eine lebenslustige junge Dame, deren Bewunderer, ein eifersüchtiger Ehemann, ein Duell und ein Tango (beide geistvoll parodiert) und ein ausgelassener Schlußtanz.

Die chönen Verdammten. (Ein etwas irreführender Titel für ein harmloses Divertissement, das den Amüsier- und Varietebetrieb persifliert.)

In all diesen Stücken zeigt ich Roland Petit als einer der originellsten und phantasievollsten Choreographen der Gegenwart. Die klassischen Formen, auf denen er basiert, sind freilich oft bis zum Reißen gespannt, und zwar weniger durch die extravaganten Sujets und die Ausdrucksintensität einzelner Stücke als durch eine gewisse Tendenz zum Virtuosen und Akrobatisch-Artistischen („Carmen“ z. B.). Die Spitzentänzer des Ensembles haben Weltklasse: Violette Verdy, Veronika Mlakar, Buzz Miller u. a. Kostüme und Bühnenbilder stellen wohl mit das Geistvollste und Faszinierendste dar, was man heute auf dem Tanztheater sehen kann. Die gutbesuchten Aufführungen in der Volksoper wurden lebhaft akklamicrt. Das Hausorchester unter der Leitung von Jacques Bazire zeigte sich, auch bei den schwierigen Partituren, in bester Form.

Das Wiener Opernballett hat seit der Uebersiedlung ins neue Haus bedeutende Fortschritte gemacht. Der Premierenabend mit „Giselle“ und „Der Mohr von Venedig“ während des Opernfestes war ein vielversprechender Anfang. Hier und auch bei einigen der folgenden Neueinstudierungen trat besonders die junge Garde unter der Führung Gordon Hamiltons mit disziplinierten und virtuosen Leistungen hervor. Nur die Programmgestaltung hat mit dieser erfreulichen Entwicklung nicht Schritt gehalten. Darunter litt auch der letzte Ballettabend. Die sechs Stücke aus T s c h a i-kowskys „Dornröschen“ sind zwar musikalische Kostbarkeiten, aber die konventioneilt Choreographie von Petipa (der vor 110 Jahren alt Premier danseur aus Paris nach St. Petersburg kam und den wclterobernden französisch-russischen Stil begründete) hätte einer gründlicheren Erneuerung bedurft und ließen den organischen Zusammenhang vermissen. Doch entschädigten hierfür Anmut und Technik unserer jüngsten Tänzer: Erika Zlocha mit vier Partnern in einem Adagio, Gcrlinde Dill und Dietlinde Kiemisch in zwei Solis, Christi Zimmerl und Fred Meister sowie (als perfektestes und originellstes Paar) Edeltraut Brexner und Richard Adama im Pas de deux.

Noch um einige Grade antiquierter und leerer wirkt heute die „J o s e p h s 1 e g e n d e“. Zu diesem prunkvoll-dekorativen Superballett wurde Richard S t r a u s s durch ein Gastspiel der Diaghilew-Truppe in Berlin, einige Jahre vor Ausbruch des ersten Weltkrieges, angeregt. Harry Graf Keßler und Hugo von Hofmannsthal schufen $lie Handlungen bzw. das Szenar. Dem in das Venedig des Paolo Vcronese verlegten biblischen Sujet wurde ein mira-kulöser Schluß angehängt: die Errettung des jungen loseph vor Potiphars Weib durch einen Erzengel. Die beiden Gegenwelten — Josephs Reinheit und die luxuriöse Sinnlichkeit am Hofe Potiphars, in dessen Nähe „selbst die. Luft noch mit Goldstaub geladen ist“, — werden recht primitiv und naturalistisch dargestellt. Unangenehmer noch als in der „Salome“ ist die Mischung von Erotik und mystischer Verzückung. Strauss wußte mit dem Sujet zunächst nicht viel anzufangen, und die Arbeit an der Partitur bereitete ihm ungewönliche Schwierigkeiten. In einem erst vor kurzem bekanntgewordenen Brief an Eberhard von Bodenhausen schrieb Hofmannsthal: „Die Musik hat eine große Allüre, einen wahrhaften Freskostil, das ist ihr Bestes. Im Seelischen bleibt sie viel schuldig.“ Es ist wohl kein Zufall, daß gerade dieses pompösornamentale Werk unmittelbar vor Ausbruch des ersten Weltkrieges (durch das Russische Ballett in Paris) uraufgeführt wurde und, nach einem Gastspiel der Diaghilew-Truppe in London, für mehrere Jahre vom Spielplan verschwand: seine Zeit war um. Dieses Gefühl hat der heurige Zuschauer in noch stärkerem Maß, trotz hervorragender tänzerischer Gestaltung der Titelpartie (Richard Adama), trotz der wirkungsvollen Choreographie Erika Hankas und Heinrich Hollreisers färben- und kontrastreicher Interpretation der Partitur.

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