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Ballett und Ballette aus Stuttgart

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Die Welt ist klein geworden, auch was die Ballettkunst betrifft. Inner- halb eines Jahres konnte man, nur indent man von Wien nach Salzburg fuhr, die beiden groBten und glan- zendsten Compagnien sehen: die von Balanchine und das Moskiauer „Bolschoi“, und wenn man ein wenig weiterfahrt, so bekommt man noch dies und jenes andere zu Gesicht. Daher empflehlt es sich, mit dem Pradikat „ Weltformat" sparsiam um-

zugehen, denn es ist leicht nach- priifbar. Unter dem Handikap allzu reichlicher VorschuBlorbeeren litt das Wilrttembergische Staatstheater- ballett, Stuttgart. Was sich dann, be- vor der Vorhang zum erstenmal in die Hbhe ging, alles ereignete, daran waren die Gaste unschuldig, es war wirklich fatal, aber es hat den Stuttgartem nicht wesentlich ge- schadet, sondem ihnen viel Mit- gefuhl und auch Anerkennung fur das trotzdem Geieistete eingetragen.

In Kiirze: drei der mannlichen Haupttanzer flelen infolge von Ver- letzungen aus, wodurch das einzige auf dem Programm ihres Wiener Gastspiels beflndliche groBe Hand- lungsballett („Romeo und Julia von Prokofleff) nicht gezeigt werden konnte. Ebenso entflel „Las Henma- nas“ auf Musik von Frank Martin. Und „Giselle“, fur welches in alter Eile die Dekorationen aus Stuttgart herbeigeholt wurden, konnte (angeb- lich) wegen mangelnder Orchester- proben nicht aufgefuhrt werden. Es hatte als Ersatz fur „Romeo und Julia" dienen sollen. Vielleicht war es . besser so. Denn „Giselle“ bendtigt 20 bis 24 gate, gleich- gewachsene Tanzerinnen (die Wilis), und die haben die Stuttgarter ganz einfach nicht. Dagegen besitzen sie etwa ein Dutzend wohltrainierter und gutaussehender junger Manner. Und sie haben einen oriigineilen, einfallsreichen und intelligenten Choreographen, den knapp 40jah- riigen, in Sudafrika geborenen Englander John Cranco.

Versuchen wir also, die Eindriicke, welche die beiden Programme der Stuttgarter hinterlassen haben, zu- sammenzufassen.

Das erste begann mit „L’Estro Armonico" nach drei kurzen, je dreisatzigen Concert! von Antonio Vivaldi, einer in ihrer Struktur ein- fachen, wohlklingenden und noblen Musik. Hier zeigte Cranco — in schwarzem Rahmen vor jeweils wechselndem feuerrotem, dunklem und hellgriinem Hintengrund eine neunteilige, songfaltig choreogra- phierte Suite, etwa im Stil Balanchines, aber bereichert um zahl- reiche originelle Schritte und Be- wegungen (wie Wippen, Schlenkem, ja sogar Huftenschwenken), die von den Solisten Egon Madsen und Bernd Berg, Harriet Heins, Birgit Keil und Ana Cardus schbn und prazis ausgefiihrt wurden. Besonders in der letzteren, einer schlan- ken, grazilen Mexikanerin, haben die Stuttgarter eine Tanzerin erster Klasse. Bei alien diesen Tanzen, die in Trainingskostiimen ausgefiihrt wurden, war ein Element von Heiterkeit und Humor zu spiiren, das als Mangelware urn so hoher zu bewerten ist. Bei Gruppen- und Reihenbildungen blieb einiges an Prazision zu wiinschen uforig, auch was die Standfestigkeit einzelner Tanzerinnen betrifft.

Hietrauf folgte, in der bekannten Choreographic Balanchines, „La Valse", zunachst — in zauberhaften, mattfaibenen Kostiimen von Barbara Karinska — sechis „Valses ndbles et sentimentales" und hierauf Ravels groBes Tanzpoem mit der Brasilianerin Marcia Haydee, Kenneth Bardow und Jan Stripling in den Hauptpartien. Zum AbschluB — und als Clou des Abends — „Jeu de Cartes" von Strawinsky, mit Karten- spielmotiven gescheit und farbschon ausgestattet von Dorothee Zippel. Hier konnte Cranco seine vielen originellen Einfalle, seinen Humor und seinen kaustischen Witz am glanzendsten demonstrieren. Mit diesen drei Runden und sechzehn ausgezeichneten Tanzerinnen und Tanzem ist Cranco ein Meisterwerk geiungen, das allein schon den Be- such der Stuttgarter rechtfertigt. Derm er hat tatsachlich den Esprit, das parodistische Element und den gestischen Charakter dieser Musik, der brillantesten aus Strawinskys neoklassizistischer Periode, voll- kommen begriffen, und seine Spitzentanzer Egon Madsen, Birgit Keil, Bernd Berg, Maximo Molina, Jan Stripling und Barbara Doering folgten den Intentionen ihres Leh rers mit sichtlichem Vergnugen, das sich auch dem Publikum mitteilte.

Am zweiten Abend gab ' es schwerere Kost, worauf man zumin- dest beim ersten Stuck, Mozarts „Konzert fiir Flbte und Harfe" mit Beigleitung des Streichorchesters, nicht gefaBt war. Aber Crancos Choreographic war hier so kom- pliziert und unruh'ig, daB keine rechte Freude aufkam und seine Tanzer (Ana Cardus, Egon Madsen, Use Wiedmann, Bernd Berg und zebn Mitglieder des Corps de Ballett) meist iiberfordert schienen. Einige gelungene Details und Passagen konnten diesen Gesamteindruck nicht wesentlich andern.

„Opus 1" auf Anton von Weberns „Paissacaglia op. 1", eine spatroman- tisch-chromatische Musik, ist als Choreographic hochoriginell, in ihrer Kompaktheit und Konsequenz imponierend, nur eben nicht sehr tanzerisch. Zwar entspricht sie weit-

gehend der schwenblutigen Musik, bedeutet aber doch einen gewissen Buckfall in jenen Stil, den vor einem Menschenalter etwa Mary Wigman erf and und praktizierte. (In den Hauptpartien Birgit Keil und Jan Stripling.)

Das den Abend beschlieBende Hauptwerk, Gustav Mahlers „Lied von der Erde“, ungekurzt, mit zwei Gesangssolisten (Margarethe Bence und James Harper im Orchester- raum), geht auf Rechnunig von Kenneth MacMillan, der es choreo- graphiert hat und in Stuttgart, auch bei deir deutschen Ballettkritik, einen groBen Erfolg damit hatte. Doch das Untemehmen bleibt im hochsten Grad problematisch, und man braucht kein „Mahlerianer“ zu sein (der Autor dieser Besprechung ist allendings einer), um dieses Ballett als uberfiussig, ja als einen kiinstlerischen Lapsus zu empfinden. Er liegt auf der gleichen Linie wie die Verfllmung von Bachs Matthaus- passion. Beide Werke sind so rand- voll mit Musik erfullt, enthalten eine so persbnliche Aussage (wobei die des Mahlerschen Werkes noch durchaus monologischen Charakter hat), daB jede optische Deutung und Verdeutlicihung zumindest unnot- wendig erscheint. Es gabe vielleicht einen Weg, Maihlers Musik zu tanzen: dann muBte man die Sing- stimmen in die Instrumente ver- legen und sich konsequent jeden Bezug auf die vertonten Texte ver- bieten. Doch Kenneth MacMillan tat dies leider nicht, sondem wo es ihm paBte, das heiBt wo er keinen allzu starken Widerstand spiirte, lehnte er sich auch an die Sujets der Bethgeschen Gedichte an. Immerhin muB man fur eine gewisse Diskretion bei der Ausdeutung der Musik dankbar sein, ebenso dafiir, daB man ,,Das Lied von der Erde“ nicht inszeniert und kostumiert hat. DaB Gustav Mahlers Witwe (schon vor Jahren) der Choreographierung zugestimmt hat, bedeutet — kiinst- lerisch — uberhaupt nichts.

Unter der Leitung von Kurt Heinz Stolze, Josef Dunnwald und Hans Swarowsky (Webern und Mahler) hat sich das Orchester der Wiener Symphoniker wieder einrnal bei- spielhaft bewaihrt.

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