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Barrikaden in Algier

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Zwei Jahre nach dem Putsch von Algier befindet sich Frankreich in der Lage des Mannes, der durchs Gestrüpp irrte und unversehens wieder auf die Stelle stößt, von der er aufgebrochen war. Aber der Stern, nach dem er sich richtete, ist seither blasser geworden: Der General de Gaulle ist nicht mehr die Verkörperung des Vaterlandes über den Parteiungen, sondern der Verfechter einer Politik, die er gegen eine andere zu verteidigen und durchzusetzen hat. Es gibt wieder zwei Frankreich, die auf verschiedenen Planeten zu hausen scheinen: eines diesseits und eines jenseits des Mittelmeeres. Diesseits des Meeres steht die Mehrheit des Volkes noch hinter de Gaulle, aber etwas desillusioniert und durch den Abgang Pinays, des „Hüters des Franc“, beunruhigt. In Algerien drüben jedoch ist für die weißen „Ultras“ die Fünfte Republik samt de Gaulle das, was vor dem 13. Mai 1958 für sie die Vierte Republik und ihre Pflimlin, Mendes, Mollet waren: nämlich das „System“, welches das Kolonialreich „verschleudert“.Allerdings scheint die Feindschaft gegen de Gaulle noch um eine Spur heftiger zu sein: Er ist nach Meinung der Ultras ja durch den „13. Mai“ ans Ruder gekommen, dessen Ideale er durch die Zuerkennung des „Selbstbestimmungsrechtes“ an die Algerier verraten habe. *

Es gibt keine Statistiken über die Zahl der Ultras, keine soziologischen Untersuchungen über ihren Wirkungskreis. Möglicherweise stellen sie nur eine kleine Minderheit der europäischen Bevölkerung Algeriens dar. Sie sind jedoch die aktivste und fanatischste Gruppe unter den Europäern und haben sich drüben das Monopol auf die freie Meinungsäußerung gesichert. Gleichwohl konnte man sagen: Die zivilen Ultras sind ungefährlich, solange sie keinen Rückhalt bei der Armee mehr haben wie am 13. Mai.

Die Armee ist nicht nur in Algerien die alles bestimmende Kraft. Auch in Frankreich ist sie angesichts der Zersetzung der alten Parteien, der „unpolitischen“ Einstellung der Technokraten und der Uneinigkeit der Gewerkschaften, das politisch ausschlaggebende Glied des sozialen Körpers. Wer heute die Armee hinter sich hat, beherrscht Frankreich. Nach der Rückkehr de Gaulles an die Macht stellte sie sich zum mindesten nach außen geschlossen hinter den General. Wir haben diese Geschlossenheit von Anfang an angezweifelt. Die Krise um Massu bestätigt diese Zweifel nun in bestürzender Weise. Sie hat deutlich gemacht, daß der kleine Kern von Offizieren, die von Anfang- an de Gaulle gegenüber äußerst kritisch eingestellt waren, nun im Verlauf der letzten Monate breiten Zustrom anderer Kader erhalten hat, die von de Gaulles seitheriger Politik enttäuscht sind — die vor allem die Politik des Staatschefs gegenüber dem FLN wie dem Mali für das verstärkte Wiederaufflammen des algerischen Terrors verantwortlich machen.

General Massu ist nicht zufällig das „Barometer“ der Algerienarmee. Dieser Mann mit den markigen Allüren war von jeher das, was man in Frankreich einen „faux dur“ — einen weichen Harten — nennt. In seiner durch Landsknechtgebaren nur mühsam überdeckten Unsicherheit ließ er sich immer vom Wind der Stunde treiben. An die Spitze des „13. Mai“ stellte er sich, weil ihn im Getümmel der Straße „ein langer, junger Kerl mit Brille“ (der später nie identifiziert werden konnte) dazu aufforderte. Als de Gaulle die Zügel ergriff, wurde Massu zum treuesten Gaullisten unter den Generalen der Algerienarmee. Kein Wunder, daß er es war, der im Gespräch mit einem ehemaligen deutschen Fallschirmjäger („un para allemand“ wurde Kempski in der Pariser Presse genannt) das „Malaise“ der Armee in Worte von unvorsichtiger Offenheit faßte. (Siehe auch unser „Porträt“, Seite 4.)

Das nämlich gab die Pariser Presse, die bisher in überwiegender Mehrheit das unangenehme Thema nicht anschneiden mochte, nach dem Bekanntwerden des „Interviews“ der Süddeutschen Zeitung“ sofort zu: Ob Massu nun diese Worte ausgesprochen hat oder nicht - sie entsprechen bis in die einzelne Formulierung hinein haargenau dem, was man in den letzten Monaten von vielen, insbesondere jüngeren Offizieren der Algerienarmee, im privaten Gespräch hören konnte. Es hatte es bloß noch niemand so offen einem ausländischen Journalisten gegenüber zu sagen gewagt. Im übrigen kam das sofort erlassene kategorische Dementi des Interviews aus dem Stab von Massus Vorgesetzten, dem Oberkommandierenden in Algerien, General Challe. Massus eigenes Kommunique vom nächsten Tage jedoch sprach von allem möglichen, bloß nahm es kein einziges Vort jenes Interviews zurück.

Genau wie die Krise um Pinay hat auch diejenige um Massu zum mindesten das Gute, daß sie Illusionen ein Ende und den wahren Zustand der Fünften Republik gegen Ende ihres zweiten Jahres brutal sichtbar gemacht hat. Daß ein Teil der Armee wieder zu seiner ambivalenten Einstellung gegenüber der legalen Macht zurückgekehrt ist, war übrigens schon aus dem Bericht des Internationalen Roten Kreuzes deutlich geworden. Malraux' kategorische Feststellung: „Es wird nicht mehr gefoltert“ mochte für die ersten Wochen der Fünften Republik gelten; heute gilt sie längst nicht mehr. Das christliche Wochenblatt „Temoignage Chretien“ konnte kürzlich sogar, ohne sich damit ein Verfahren wegen Verleumdung der Armee auf den Hals zu laden, ausführlich schildern, wie in Algerien drüben für die Kader ein Schulungszentrum für — Foltern eingerichtet worden sei. Das gab es unter der Vierten Republik noch nicht.

Welche praktische Bedeutung hat es, wenn ein Teil (vermutlich eine Minderheit) des Offizierskorps mit dem Gedanken spielt, man müsse den Staatschef absetzen, um dem „Ausverkauf“ des Kolonialreiches zuvorzukommen? Die Optimisten sagen mit Heraklit, daß niemand zweimal durch den gleichen Fluß gehe — ein „zweiter 13. Mai“ sei unmöglich. Es handle sich bei der Unruhe in Algerien um ein letztes Aufbäumen; dank de Gaulles hartnäckiger Abnützungstaktik seien die Ultras in der Armee und unter der Zivilbevölkerung nur noch verbaler Aufschwünge fähig. Das heraklitische Argument läßt sich aber gerade gegen diese Optimisten wenden: Der erste 13. Mai ist geschickt in die Bahnen der gaullistischen Legalität gelenkt worden; eine neue Attacke auf die Republik kann ihren Schwung gerade im Willen finden, nun einen „richtigen 13. Mai“ zu machen ...

Wie dem auch sei — General de Gaulle wird nun einsehen müssen, daß er nicht weiter eine utopische Schiedsrichterrolle anstreben kann, sondern mit all seinen noch nicht erschöpften Reserven die von ihm als richtig erkannte Politik durchzusetzen suchen muß — auch wenn er damit Landsleute, und selbst Offiziere, vor den Kopf stößt. Da die französische Linke bis auf ein kleines Häufchen entweder in der kommunistischen Sackgasse steckt oder aber ihr Schicksal in die Hände des Generals gelegt hat, hängt Frankreichs Schicksal mehr denn je von de Gaulle ab.

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