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Barrikadenstädte

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Unter schweren Regenwolken, von Raben umkrächzt und von Möwen umkreischt, machte Stormont, das nordirische Parlament, am Morgen nach meiner Ankunft in Belfast einen der Situation des Landes entsprechenden Eindruck. 39 Abgeordnete einer in Ehren ergrauten, seit einem halben Jahrhundert ohne Unterbrechung fest im Sattel verankerten Regierungspartei haben nun bis Weihnachten Zeit, jene Reformen zu beschließen, um die ein Drittel der Bevölkerung, repräsentiert von einem Viertel der Volksvertreter, seit der Staatsgründung vergeblich kämpft. Niemand wagt auszudenken, was geschehen könnte, wenn diese nicht zuletzt unter Londoner Druck versprochenen Reformen verzögert würden. Die Lage ist schon explosiv genug.

Unten in der Stadt haben die Katholiken ihre Wohnviertel abgeriegelt. Auf dem Weg vom Aldergrove Airport ins Zentrum rollt der Autobus an Dutzenden von abgesperrten, verbarrikadierten Seitenstraßen vorbei. Hinter diesen Barrikaden ist die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet. Seit vielen Wochen betritt kein Polizist mehr diese Viertel, fährt keine

Kehrmaschine durch diese Gassen, befaßt sich keine Behörde mehr mit ihrer Verwaltung, die völlig in die Hände der Bewohner übergegangen ist.

An den Häuserwänden selbstgemachte Plakate sowie Inschriften: „Barricades are beautiful!“ Oder: „B-Men out!“ Oder: „B-Force — Gestapo“. Die B-Men beziehungsweise B-Forces sind eine bei den nordirischen Katholiken besonders verhaßte und gefürchtete Polizeisondertruppe.

Ich bin am Abend in Belfast angekommen, habe mir eine Zeitung gekauft und auf der ersten Seite gelesen, daß die eingeäscherte Bombay Street wieder auf gebaut werden soll. Ich mache mich auf den Weg zur Bombay Street. Die Richtung ist nicht zu verfehlen. Man stößt sehr bald auf Militär, das die Fußgänger unbehelligt läßt, aber jedes Fahrzeug stoppt und durchsucht. Soldaten mit erhobenen Gewehren, Soldaten mit dem Gewehr lässig im Arm, Soldaten mit in der Hüfte aufgestütztem Gewehr, Soldaten in Zelten mit Funkgeräten, in gewissen Straßen alle fünf Meter ein bewaffneter Soldat.

Das sind die „gemischten Straßen“, in denen Katholiken und Protestan-

ten einander gegenüber oder nebeneinander wohnen. In diesen Straßen liegt eine schwer zu beschreibende Spannung in der Luft. Man spürt, daß die Soldaten hier nicht zu ihrem Vergnügen sind. Irgendwo klebt am zerstörten Rollbalken einer ausgebrannten Wäscherei eine Mitteilung an die werten Kunden, Ansprüche auf . Schadenersatz für vernichtete Kleidungs- und Wäschestücke seien bis dann und dann anzümelden. Rauchschwaden hängen in der Luft, es riecht nach Brand, aber es haben nur da und dort die Soldaten Feuer angezündet, um sich in der Kühle der bevorstehenden Nacht zu wärmen.

In den katholischen Vierteln sind die Straßen finster, aber die Türen und Fenster hell erleuchtet. Man wohnt in Reihenhäusern von bedrückender Winzigkeit, hinter Straßenfronten von vier, fünf Metern Breite, in Puppenhäusern mit Puppenstuben; so wohnt der Katholik wie der Protestant, aber der Katholik hat meist mehr Kinder und größere Schwierigkeiten, ein solches Puppenhaus zugeteilt zu bekommen.

Kilometerweit in den nebelverhangenen, grauen Vorstädten von Belfast und Londonderry,. in denen der Herbstwind Zeitungsfetzen mit abgefallenem Laub tanzen läßt: Häuschen neben Häuschen, Tür neben Tür. Ich kann mir vorstellen, wie auf irgendein Geräusch, dessen Bedeutung nur die Bewohner kennen, alle diese Türen aufgerissen werden. Tatsächlich springt in den Vorstadtviertelri von Belfast der Aufruhr ’ wie ein Lauffeuer von Straße zu Straße, und der Anlaß ist meist so nichtig, daß mari ihn später kaum rekonstruieren kann.

An einem Tag im August dieses Jahres flogen Benzinflaschen aus der protestantischen Nachbarschaft gegen die Häuser der katholischen Bombay Street. Ein halbes Hundert der Puppenhäüser ging in Flammen auf. Wo sie standen, ist heute eine eingeebnete Schuttfläche.. Wenige Tage nach dem Großfeuer kam die Army ins Land. Sie wird lange bleiben, denn die „troubles“ der letzten Monate, die „Schwierigkeiten“, von denen man mit britischem Understatement spricht, waren kein Temperamentausbruch, nach dem man sich schnell versöhnt.

„Mein Vater“, schreibt die 22 Jahre alte katholische Unterhausabgeordnete Bernadette Devlin aus Nordir-

land, „entstammte dem sozialen Bodensatz Cookstowns. Er war der Sohn eines Straßenkehrers. Mein Großvater hatte während des Burenkriegs' in der britischen Armee gedient und eine Knieverletzung davongetragen. Zum Dank wurde er zum Straßenkehrer befördert… Mein Vater starb im August 1956. Damals hörten wir des Nachts immer wieder die Sirenen. Sobald sie heulten, öffneten sich in der Nachbarschaft die Türen, und unsere Nachbarn traten heraus, zogen ihre schweren Mäntel an und schulterten ihre leichten Maschinengewehre. Meine Mutter stand in den Alarmnächten am Fenster und blickte über das Sumpfgebiet. .Zumindest werden sie- jetzt euren Vater niemals bekommen“, sagte sie dann. Wenn wir ’ auch nicht genau wußten, was sie meinte, so konnten wir es' doch erraten.“

Die katholischen Iren kämpfen seit Jahrhunderten um ihre Unabhängigkeit, und seit der Süden unabhängig ist, kämpfen die katholischen Nord- iren, eine unterdrückte Minderheit in dem • bei England verbliebenen Stück Irlands, um Gleichstellung und Unabhängigkeit. Die Bürgerrechtsdemonstrationen des letzten Jahres haben den alten Haß der Mehrheit wieder einmal freigesetzt, vor allem den Haß der Unterdrückten unter den Unterdrückern, das heißt der protestantischen Unterschicht. Der kleinen Leute, die um ihre armseligen kleinen Privilegien fürchten und die durch die Gleichstellung der Katholiken die für das seelische Gleichgewicht so wichtige Möglichkeit verlieren werden, auf andere, auf der sozialen Leiter noch tiefer als sie selbst Stehende herabzuschauen.

Die katholischen Bürgerrechtler haben Gewalt nur in Einzelfällen angewendet, aber sie haben die Gewalt der Gegenseite provoziert. Es ist paradox,' ihnen das nun vorzuwerfen, denn erst der explosive „backlash“, die alle Dämme sprengende, wilde Gewaltanwendung der Gegenseite hat die nun in Gang gesetzten Reformen erzwungen. Die Dämme waren übrigens schwach. Die Polizei betätigte sich nicht als Ordnungstruppe, sondern als Vorhut des protestantischen Mobs.

Konsequent halten sich die Katholiken nun a uf der ganzen Linie zurück, „der Wechsel ist unterschrieben“; Sie warten auf die Einlösung. Aber die Gleichstellung der Katholiken scheint für einen fanatischen Teil der- protestantischen Unterschicht unannehmbar, weil gleichbedeutend mit einem Zusammenbruch ihres Weltbildes zu sein. Sicher ist Angst eine Wurzel ihres Hasses. Sicher ist ihre Angst nicht völlig unbegründet, denn Nordirland hält seinen Lebensstandard nur mit Hilfe gigantischer Subventionen aus London, ebenso sicher arbeitet die katholische Opposition auf die Loslösung Nordirlands aus dem United Kingdom hin.

Alle Stadtgebiete, in denen Protestanten in Berührung mit Katholiken kommen, gleichen heute ausge-

dörrten Steppen, in denen ein Funken zur Katastrophe führen kann. Nur die Anwesenheit der Army verhindert die totale Konfrontation. Sie lokalisiert Konflikte und verhindert die Eskalation vom lächerlichen Wortwechsel an einer Straßenecke zum durch die Stadt rasenden „riot“. In den katholischen Vierteln haben die „Citizens Defense Committees“ Wachlokale eingerichtet. Und Stationen für Erste Hilfe. Einlaß wird nur auf bestimmte Klopfzeichen gewährt. Drinnen in den rauchverqualmten Puppenstuben amtiert und berät man auf alten Ledersofas, an papierbedeckten Tischen, hinter zwei Telephonen, aber in großer Ärmlichkeit, über dem ganzen liegt ein Hauch von Konspiration, von Revolution, so mag man in Mitteleuropa seine Kader geführt haben, als die Ideologien noch jung waren. Der Anschein täuscht. Die Bürgerrechtsbewegung ist, abgesehen von Randerscheinungen, eine unpolitische Bewegung. Soweit Ideologien hier eine Rolle spielen, stammen sie etwa aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.

Der Bürgerkrieg in Nordirland dauert, zeitweise latent, nun schon 50 Jahre. Nur die Army trennt die Gegner. Und die Barrikaden, soweit sie noch stehen. Tatsächlich einsetzen kann das Militär hier lediglich die physische Kraft seiner Soldaten, den Stacheldraht und das vieldiskutierte Tränengas. Mehr als einmal bildeten die Soldaten eine „lebende Mauer“ und konnten zusehen, wie Steine und Benzinflaschen ungehindert über ihre. Köpfe auf die andere Seite flogen. Die neue „Riot-Ausrü- stung“ aus Stahlhelm, kugelsicherer Weste, Gasmaske und Schlagstock ermöglicht ein aktiveres Eingreifen gegen die Zusammenrottungen fanatischer Protestanten, von denen viele auf ihren Reverend Paisley von der. „Freien Presbyterianischen Kirche von Ulster“ hören. Dieses aktivere Eingreifen wiederum wurde zur Voraussetzung für den Abbau der Barrikaden um die katholischen Viertel, mit denen auf. der. katholischen Seite niemand Freude hat. Sie schützen nicht nur, sie isolieren auch und fördern die „Ghettomentalität“, der die führenden katholischen Kräfte gerade jetzt mit allen Mitteln entgegenzuwirken suchen.

Die Nächte des Wochenendes gelten als, besonders gefährlich. Das vor- letzte Wochenende verlief glimpflich, die Situation in der von Scherben bedeckten und von Gasschwaden durchzogenen Woodstock Road wurde gerade noch gemeistert, in der Shankill Road hielt Paisley eine beruhigende Ansprache, worauf sich die Menge nach einem gemeinsam gesungenen „God save the Queen“ zerstreute. Momente nicht ohne Komik nach Augenblicken der Hochspannung.

Eine Woche später, letztes Wochenende, suchten 2000 Protestanten ein katholisches Viertel zu stürmen. Schüsse von Dächern, Schüsse der Army, von Kettenfahrzeugen plattgewalzte Hindernisse, drei Tote, 50 Verletzte.

In Londonderry herrscht Ruhe. Londonderry ist kleiner als Belfast und macht im Zentrum, wo die Konfessionen aufeinanderstoßen, den Eindruck totaler militärischer Besetzung. Doppelposten alle paar Meter, spanische Reiter griffbereit an jeder Ecke, Militärfahrzeuge, Funkgeräte, Straßensperren, die abends geschlossen werden. Kinder, die ihr Vergnügen an dem Ganzen haben. Soldatenspäße mit den vorbeigehenden Mädchen. Der Job macht den Boys wenig Freude.

Aber sie müssen bleiben, denn nur im Schutz von Stacheldraht, Helmen, Schlagstöcken, Gasmasken, Tränengasgranaten und Gewehren ist die Durchführung der Reformen, die Stormont in den nächsten Wochen beschließen wird, überhaupt möglich.

So lange, bis sich die Fanatiker mit der Gleichstellung der als Feind empfundenen Minderheit angefreundet haben, bleiben die Großstädte Belfast und Londonderry Barrikadenstädte. Denn die äußeren Barrikaden sind nur Ausdruck innerer Barrikaden mitten durch ein gespaltenes, von nationalen, sozialen, erst in zweiter Linie konfessionellen Antagonismen zerrissenes Land.

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