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Bedeutende Romane junger Autoren

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Humbert Finks zweiter Roman — dem Umfang nach eher eine Erzählung, nicht stärker als Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ — ist der Monolog eines Mannes, der dem Gefängnis seiner Liebe und seiner Ängste, seiner verzweifelten Ehe und seiner panischen „Aeroplanophobie“, seinem äußerlich gesicherten, innerlich kranken Leben in Wien entflieht, um Zuflucht zu finden in La Speranza Ionica, einem elenden Dorfflecken am ionischen Meer, der doch irgendwie die Hoffnung verkörpert. Dieser Mann ist ein Schriftsteller, nicht viel älter als Fink selbst, und diese Tatsache gibt dem Autor Gelegenheit, auch einige Einblicke in die Abgründe der zwiespältigen Existenz des Schreibenden zu tun, der das Leben immer doppelt erlebt: als Erleidender und als Beobachter; als Schicksal und als Stoff. Mehrfach zitiert Fink den von ihm sehr verehrten Cesare Pavese: „Eine Frau, die nicht dumm ist, verwandelt, wenn sie einen gesunden Mann trifft, ihn früher oder später in ein Bruchstück.“ Dieses Zitat wird zum Ausgangspunkt vieler Überlegungen und Rückblenden des Mannes (seinen Namen erfahren wir nicht), es ruft Reflexionen und Rekapitulationen hervor und treibt so den Gang der Handlung voran. Ich glaube, daß selten in der Literatur ein Zitat so produktiv verwendet wurde; es wirkt als auslösendes Moment, als Initialzündung sozusagen, und ohne es würden wir manches nicht erfahren aus dem verworrenen Leben dieses Mannes.

Ein anderer Vorzug des Buches ist die Sinnlichkeit des Stils; seit Hemingway ist nicht oft eine Prosa von solchem Feuer geschrieben worden; nirgends verliert sie sich in abstraktes Geschwätz; man spürt das unmittelbare Verhältnis, das der Autor zu Wein und Zigaretten hat, was sie ihm in jeder Lebensphase bedeuten; bis in subtilste Nuancen wird das Erleben des immer wechselnden Meeres dargestellt, das Geschrei der Esel, Hunde, Möwen, und drückend schwer lasten Staub und Gestank auf dem Ort in Kalabrien und seinen engen Wirtsstuben. Bilder von wechselnder Kraft wie dieses sind nicht selten: „Und es hat Nächte gegeben, in denen aus allen Fenstern Köpfe ragten, als wären es Fische, die an die Oberfläche des Wassers kommen, um den Himmel zu sehen.“

Mehr als mit Hemingway aber hat Fink mit Albert Camus gemein Manches im Buch erinnert an „La Chute“, an die zögernde und schließlich so überraschende Beichte eines Pariser Anwalts. Die Verwandtschaft scheint mir aber weniger im Aufbau des Buches zu liegen und in der Art, der Hauptperson Geständnisse zu entlocken, als in der Haltung, die der Autor zum Leben einnimmt: es auch in seiner Absurdität noch zu lieben und es in absoluter Redlichkeit darzustellen.

Fink bleibt uns einiges über seinen Helden schuldig; sein Roman liest sich wie der Auftakt zu einem sehr bedeutenden Romanwerk. Aber das macht nichts; der heute 26jährige Autor steht ja erst am Anfang seiner Meisterschaft, von der er uns hier eine gültige Probe gegeben hat.

*

DER STUMME. Roman von Otto F. Walter. Kösel-Verlag, München. 288 Seiten. Preis DM 13.80.

In manchem ähnlich wie Fink und doch wieder ganz anders erzählt der junge Schweizer Dichter Otto Friedrich Walter (Jahrgang 1928) seine Geschichte; auch hier wirkt die Vergangenheit bestimmend in die Gegenwart hinein, auch hier wird sie stückweise, stoßweise sozusagen „eingeblendet“.

Ein junger Bauarbeiter, der durch ein schreckliches Erlebnis in seiner Kindheit die Sprache verloren hat, kommt zu einer Baustelle im Schweizer Jura, wo eine Straßentrasse noch vor Wintereinbruch einen Paß hinaufgetrieben werden Soll. Er ist auf der Suche nach seinem liederlichen, versoffenen Vater, und hier findet er ihn wieder, unter den zwölf Arbeitern der Baugruppe III. Der Vater aber erkennt den Stummen nicht wieder; der Will die Mutter an ihm rächen, aber als er ihn schließlich tötet, ist es ein Unfall, der Vater rennt in eine Sprengung hinein, die der Sohn an seiner Stelle ausgeführt hat. Das Geschehen zwischen Vater und Sohn ist mit unerhörter Subtilität dargestellt. Jeder Satz deutet das langsame, schwerfällige, träge Denken des Stummen wie seines Vaters an; es macht ihnen Schwierigkeiten, einfache Gedanken klar zu fassen. Dabei ist das innere Leben des Stummen von großer Gefühlstiefe, es fällt ihm nur schwer, seine eigenen Empfindungen richtig zu fassen und zu begreifen. Die Darstellung der äußerlich armseligen, im Kern aber doch schwerwiegenden Empfindungswelt dieses nach Ausdruck und Verständnis ringenden jungen Arbeiters ist Otto F. Walter meisterhaft gelungen.

Drei Vorzüge sind es, die dieses Buch neben den Publikationen von Andersch, Boll und Fink zur wesentlichsten deutschen Prosa des letzten Jahres machen: die scharfe Beobachtungsgabe des Autors, die die Arbeitswelt einer Baustelle bis ins kleinste Detail exakt erfaßt und die überhaupt für jede geschilderte Situation über jene Details verfügt, die genau die Atmosphäre zu suggerieren vermögen, dann die Gabe des Autors einfach und ohne Prätention zu erzählen. Jeder Satz stellt dar und dient dem Ganzen. Hier wird nicht gescheit getan, geschwätzt und philosophiert, hier wird wirklich erzählt; und schließlich die tiefe Menschlichkeit, die unaufdringlich, ja, versteckt und doch spürbar das ganze Buch trägt. Ich weiß für sie keinen anderen Vergleich, als das tiefe Mitempfinden, das William Faulkner für seinen Ben in „Schall und Wahn“ zeigt.

Angesichts dieser überragenden Vorzüge ist es vielleicht kleinlich, eine Schwäche anzumerken. Das einzige, was etwas störend wirkt, ist die Technik des Dialogs des Autors mit den zwölf Arbeitern auf der Baustelle. Nacheinander spricht er sie mit „D“ an, sagt: erinner dich, so war es doch. Diese Dialoge mit den Arbeitern werden unterbrochen durch Rückblendungen, Rückerinnerungen des Stummen. Da sie zu rasch aufeinanderfolgen, verschwimmen die einzelnen Gestalten etwas vor unserem Blick; man hätte in dieser Art des „inneren Dialogs“ höchstens einen einzigen der Leute examinieren dürfen. Stellenweise ist diese Technik einfach unergiebig, nämlich dann, wenn der Autor Dinge darstellen muß, die der jeweilige Dialogpartner nicht gesehen und gehört hat und darum auch nichr weiß, wenn er sagen muß: Während du dort saßest, geschah ganz in deiner Nähe das und das.

Aber dieser Einwand muß am Rande bleiben; er fällt nicht ins Gewicht vor der Gesamtleistung des Dichters. Mit seinem ersten Werk hat er sich in die Reihe des knappen Dutzend deutschsprachiger Prosaisten gestellt, auf deren Arbeiten man von Mal zu Mal gespannt wartet.

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