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Bedrohtes Volk

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„Wir leben noch“, übertitelt die in Freiburg i. Br. erscheinende „Badische Zeitung“ letzter Tage ihren Leitaufsatz. Das war keine Schilderung allgemeiner Zustände, sondern ein Notschrei aus tiefstem persönlichem Erleben heraus; die seelische Zersdilagenheit eines dem Zusammenbrechen nahen, am Rande angelangten Menschen sprach aus diesen Zeilen. Man mußte sich beim Lesen dieser ergreifenden Sätze immer wieder fragen: Die Zeitung, die dies schreibt — erscheint sie wirklich in Freiburg, der arbeitsamen und lebensfrohen Stadt än den Hängen des Schwarzwalds, die, um ihr uraltes Liebfrauenmünster gelagert, noch vor wenigen Jahren zu den schönsten Städten Deutschlands zählte? In ihrer Michaelkapelle auf dem alten Stadtfriedhof weist man auf die berühmte alte Totentanz-Bilderreihe. Der Aufsatz liest sich wie ein Text zu den alten Gemälden. Die Lage in großen Gebieten, auch Westdeutschlands, ist heute dadurch erkennbar, daß auch Tapfere zuweilen gegen die Versudiung des Versagens anzukämpfen haben. Der Hirtenbrief der in Fulda unter dem Vorsitz von Kardinal Frings versammelt gewesenen Bischöfe, der am zweiten Septembersonntag von den Kanzeln Deutschlands verlesen wurde, hält dem eigenen Volke und der ganzen Welt mit jener würdevollen Offenheit, die auch zur Nazizeit die Kundgebungen der deutschen Bischöfe auszeichnete, das Bild des heutigen Deutschlands vor Augen:

„Unser Volkskörper blutet wirklich aus tausend Wunden. Wohnungsnot, Nahrungsnot, Kohlennot, Mangel an den einfachsten und wichtigsten Bedarfsdingen des täglichen Lebens machen das Leben schwer und unerträglich. Die vielfadi mit größter Hast und mit unsagbarer Härte durchgeführte Ausweisung von Millionen Menschen aus dem Osten, diese Verstoßung von Haus und Hof, hat es verschuldet, daß in dem verkleinerten, mit Ruinen bedeckten deutschen Räume eine Wohnungs- und Nahrungsnot entstanden ist, die jeder Beschreibung spottet. Der Hungertod hat.bereits reiche Ernte gehalten und wird noch reichere halte n.“

Mit der äußeren Not verbinde sich vielfach die seelische: „Wer glauben möchte, daß die deutliche Sprache, die Gott in Kriegsgewittern gesprochen hat, genügen würde, die Menschen zur tieferen Besinnung auf ihr ewiges Heil, zur glühenderen Christusliebe und zur größeren Kirchentreue führen würde, hat sich vielfach sehr getäuscht. W i r sehen Kräfte am Werke, die an den Grundmauern des christlichen Glaubens und der c h r i s t-lichen Sitte rüttel n.“ Noch mehr als der sittlidie Wen des Eigentums, an dessen Verpflichtungen die Kundgebung der Bischöfe eindringlich erinnerte,

„wird die rechte Ordnung auf dem Gebiete der Sittlidikeit im engeren Sinne mißachtet. Schamhaftigkeit und Herzensreinheit, die Perle der Jugend, der Schmuck und die Anmut des Frauentums, Ehre und Würde des Mannes sind leider Gottes in der Wertschätzung gesunken. Entfesselt rast die Leidenschaft der sinnlichen Lust durch die Lande. Aus schnöder Gewinnsucht gibt man Ehre und Gewissen dahin und richtet sich nicht nach dem, was erlaubt ist, sondern was gefällt. Da heißt es einen kräftigen Trennungsstrich ziehen zwischen christlicher Sitte und heidnischer Lebensart.“

Das ist eine todernste Charakteristik der Situation; nie hat noch ein Hirtenwort des deutschen Episkopats eine ähnliche zu schildern gehabt.

Was ist das Ringen um das tägliche Brot neben jenem andern, in dem es nicht um das Heute una Morgen, sondern um die Zukunft eines ganzen Volkes geht! Das große Unglück beginnt dort, wo die moralischen Kräfte nicht mehr ausreichen, um die Menschen in der physischen Not, in den äußeren Drang“ salen von Armut, Wohnungsnot und Hunger aufrechtzuerhalten. Eine breite Schichte der jungen Generation ist von der nazistischen Erziehung in ihren seelischen Grundfesten erschüttert worden. Berichte von Beobachtern, die aus ganz verschiedenen Gesichtswinkeln an die Prüfung der Tatsachen herangegangen sind, stimmen in der Feststellung trostloser Erfahrungen überein. Wenn einer dieser Beobachter geurteilt habe: „Es gibt keine Jugend mehr in Deutschland“, so widerspricht ihm zwar die Schweizerin Dr. Doris Huber, die als Sonderkorrespondentin der „Neuen Zürcher Nachrichten“ in diesem Blatte von ihren Eindrücken in Deutschland berichtet, aber sie verhehlt nicht, daß die Jugendverwahrlosung in den Städten einen erschreckenden Charakter angenommen hat. „Doch man irrt“, sagt sie fortfahrend und sie illustriert mit ihrem Bericht den Hirtenbrief der deutschen Bischöfe, „wenn man. die Zustände der Jugendverwahrlosung nur in der Wirrnis der zerstörten Großstädte zu finden glaubt. Sie sind auch auf dem Lande zu treffen. Dort ist die Ursache eine ungesunde, unbändige Tanzwut, eine richtige Tanzepidemie, die sich nicht nur relativ, sondern wirklich absolut mehr als in der Stadt breitmacht. In diesem ungeheuren Ausmaß, man möchte fast sagen, in dieser Besessenheit, ist auf dem Lande noch nie getanzt worden. Jugendliche von 14 bis 16 Jahren bevölkern die Tanzböden und sind tonangebend. Es gibt Dörfer, in denen schon seit zwei Jahren kein Samstag, Sonntag und Montag vergeht, an denen nicht die ganze Nacht bis zum frühen Morgen getanzt wird. Die Ziffern über die Zunahme an Geschlechtskrankheiten auf dem Lande sprechen eine , deutlidie Sprache. Wenn hier nicht eingegriffen wird, ist diese Nachkommenschaft verloren und damit der ganze Volkskörper aufs schwerste geschädigt.“

So düster die Lage ist, so ist sie doch nicht ganz ohne Lichtblicke. Und es ist ergreifend, daß in all dieser physischen und seelischen Qual hoffnungsstarke gesunde Kräfte, aus dem Religiösen herkommend, aufgebrochen sind. Der Verfasserin schilderte der Jugendseelsorger E i n k der Diözese Köln in lebendigen Worten die Tätigkeit des katholischen Jugendverbandes, der in Köln 12.000 Jugendliche (von 14 bis 25 Jahren) und in der gesamten britischen Zone 30 0.0 00 erfaßt. „Er durfte von den schönen Erfolgen berichten, die in den Arbeitergruppen der katholischen Jugend erzielt worden sind. In mehrtägigen Lagern werden die Jugendlichen zum sportlichen Kameradschaftsgeist erzogen; ,einer für aille, alle für einen'; heißt die Parole. Die Not der Zeit hat gezeigt, daß das religiöse Anliegen ungeheuer groß ist. Der junge Mensch fragt, was er in geordneten Verhältnissen nicht tun würde. Darum ist Führung ungemein wichtig, nicht als Befehl, sondern als Weckung des eigenenchrist-lichen Verantwortungsbewußtseins. Durch Vorträge wird der junge Mann auf seine Aufgaben im öffentlichen Leben hingewiesen, Aufgaben, die über den Bereich seiner Berufsarbeit hinausreichen. Es geht um den Glauben an einen dreieinigen Gott, von dem alilein die Kraft für ein werktätiges, verantwortungsbewußtes Leben kommt.“

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