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Befreite Weihnachten

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Es ist Weihnachten. Und aufs neue, sieghaft und strahlend steht der Stern am Himmel, der die Könige aus dem Morgenland zu der Krippe führen wird zur Huldigung der Völker vor dem Kinde, das in der ärmlichen Verlassenheit eines Stalles als Erlöser im Namen der ewigen Liebe auf die Erde gekommen ist.

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Es ist Weihnachten. Und aufs neue, sieghaft und strahlend steht der Stern am Himmel, der die Könige aus dem Morgenland zu der Krippe führen wird zur Huldigung der Völker vor dem Kinde, das in der ärmlichen Verlassenheit eines Stalles als Erlöser im Namen der ewigen Liebe auf die Erde gekommen ist.

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Ist es Traum, ist es Wirklichkeit? Ist es wahr, daß es erst vorgestern, vor ein paar Monaten, vor ein paar Jahren war, daß das christliche Liebesgebot im Namen eines neuen Menschheits- und Staatsgesetzes verhöhnt, bescheidener, demütiger Dienst am Nächsten als das Werk einer Sklavenmoral verächtlich gemacht, in gerühmten Büchern angeprangert werden konnte? Man möchte sich zuweilen von der Stirne eine schreckhafte Phantasie wegwischen, die unsere Sinne zu täuschen vermochte. Aber es ist doch alles Wahrheit gewesen. Es ist Wahrheit gewesen, daß zum gebieterischen 'Staatsdogma der Satz erhoben worden war, das christliche Gebot der Liebe und die Lehre von der Gleichheit aller Menschen vor Gott sowie „die Lehre vom demokratischen rasselosen Menschenrecht“ habe die europäische Gesellschaft geradezu als Hüterin des Minderwertigen, Kranken, Verkrüppelten und Verfaulten entwickelt. „Liebe“ plus „Humanität“ seien „zu einer alle Lebensgebote und Lebensformen eines Volkes und Staates zersetzenden Lehre geworden“.

Nein, nichts mehr von Liebe, Demut, Entsagung — das Lebensgesetz des deutschen Volkes laute: „Ehre, Würde, Selbstbehauptung, Stolz“. So verkündete es die Schrift Alfred Rosenbergs, die als die gültige Fassung des künftig einzig legitimen Weltanschauungsbildes in die Fundamente des Nürnberger Parteihauses feierlich eingemauert wurde. — Es war nur folgerichtig, daß in einer solchen geistigen Welt auch kein christliches Weihnachtsfest mehr Platz hatte, und man versuchte selbst bescheidene Erinnerungen daran — und waren es auch nur christlich gestimmte Weihnachtswunschkarten — fortzuräumen. Nichts mehr von dem Hochfest der Liebe und Barmherzigkeit Gottes und seinem rührend erhabenen Anruf an die Menschheit, Liebe, Barmherzigkeit, opfernde Hingabe zu üben, nichts von dem Frieden, der in diesem Zeichen „allen Menschen guten Willens“ verheißen ist. Nichts davon. An seine Stelle „Ehre, Würde, Selbstbehauptung, Stolz“. Das war die große neue Heilsbotschaft.

Es ist bereits Gericht gehalten worden. Die Geschichte hat über die Apostel und Vollstrecker jener Heilslehre ihr Urteil mit erschütternder Eindeutigkeit gefällt. Nie ist die Ehre und Würde des deutschen Volkes und sein Stolz so tief erniedrigt, seine Selbstbehauptung so schwer getroffen worden, wie durch dieses Gericht, das vor dem ganzen Erdkreis durch den Gang eines großen Geschehens gehalten wurde. Gäbe es heute die Liebe nicht, das tief in der gottgeschaffenen Menschennatur wohnende Erbarmen für Hungernde, Vertriebene, aller menschlichen Güter Beraubte nicht und nach dem schrecklichsten aller Kriege nicht ein Vergeben, das gütige Hände über niedergebrochene Schranken zur Hilfe hinwegstrecken läßt, es müßte die Menschheit an sich selbst verzweifeln.

Aber es ist Weihnachten. Und aufs neue, sieghaft und strahlend steht der Stern am Himmel, der die Könige aus dem Morgenland zu der Krippe führen wird zur Huldigung der Völker vor dem Kinde, das in der ärmlichen Verlassenheit eines Stalles als Erlöser im Namen der ewigen Liebe auf die Erde gekommen ist. Wenn die Völker eines aus dem Weltbrande gerettet haben, so ist es das Wissen um den Fluch hochmütiger Entzweiung, um die Dämonie des Hasses und das Wissen um die Kostbarkeit des Friedens, der im letzten sich auf das sittliche Bewußtsein des Verbundenseins der Familie gründet.

Was vom Ganzen gilt, gilt auch innerhalb der sozialen Ordnung und für das Verhältnis der einzelnen Menschen zueinander. Das Christfest steht am Eingang des Kirchenjahres, es will seine Liebesbotschaft für jeden bis ans Ende errichten. Was es uns sagt, soll für den Christen kein bloßes Lippenbekenntnis werden, keine sentimentale Anwandlung einer freundlichen Stunde, sondern lebendige Übung. So wie es an diesem Feste des Schenkens sich zum Gebrauche geformt hat.

Freilich, es sind diesmal für ungezählte Menschen unsagbar traurige Weihnachten. An diesem Fest der Freude und der liebevollen Gaben, wie wir es vordem begingen, sind wir diesmal überall von Leid umgeben, so viele Väter tot, so viele Brüder irgendwo in der Gefangenschaft oder verschollen. So vieles haben wir nicht mehr, was mit dem Begriff Weihnachten unzertrennlich, verbunden schien. Die meisten unter uns werden kaum etwas auf einen weihnachtlichen Gabentisch zu legen haben. Aber so arm wir auch sein mögen, es wird noch langen, um einen Darbenden zu beschenken, einem Kinde, einem Kranken Freude zu machen, einen Verzagenden tröstend aufzurichten. Sie tut uns not, diese aus dem Willen zum Guten geborene Liebe, die alle Unterschiede von sozialer Schichtung, Bildung und Begabung, von Partei und Weltanschauung — nicht leugnet, auch nicht nivelliert, doch überbrückt; diese Liebe, die im Andersartigen, im Wesensfremden, ja selbst im Feindseligen immer noch vor allem anderen den Menschen sieht und ihn als vielleicht Irrenden, Verführten, aber trotz alldem immer noch als Bruder achtet und behandelt.

Das ist die tiefe Weisheit, die aufs neue dieses erste von Verdunkelung und Verfälschung befreite Weihnachtsfest zu sagen hat.

In winterlicher Nacht ging die Botschaft des Engelchores über die Flur — sie ist heute wie je in unserer Not trostreiche Verheißung und Sinndeutung dauerhafter friedlicher Ordnung aller menschlichen Gemeinschaft.

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