6572789-1950_28_06.jpg
Digital In Arbeit

Begegnung im Mai 1950

Werbung
Werbung
Werbung

Wien hatte seit dem ersten Versuch !m Jahre 1947 heuer wieder eine zentrale Maiandacht der Wiener Arbeiter. Sie kamen aus den äußersten Enden der Großstadt, von Breitensee im Westen und von Floridsdorf im Osten; die Bezirke Ottakring und Hernais waren besonders stark vertreten. Jeden Abend war ein Vortrag über ein Lebensproblem in der Dauer einer Stunde. An der schriftlichen Fragestellung und Meinungsäußerung beteiligten sich zweitausend Personen. Ganze Tischrunden, Betriebe, Jugendgruppen nahmen geschlossen; Stellung zu den hier aufgeworfenen Problemen.

Im Vergleich zu 1947 hat sich mancherlei geändert. Die Leute sind lange nicht mehr so nervös wie in den aufreibenden ersten Nachkriegsjahren, und haben sich mit dem Dauerzustand der Unsicherheit im Weltgeschehen und im persönlichen Leben zwar nicht abgefunden, sind aber aus dem Stadium des Schocks in die Phase ruhiger Überlegung gekommen. Ja vielfach war sogar etwas ganz Kostbares festzustellen, das schon verloren schien, nämlich Humor. Humor schafft Kontakt, beseitigt zwar nicht Differenzen, macht sie aber erträglich. Meiner Bitte, alles aufzuschreiben, „was uns an der Kirche nicht paßt, wurde fleißig entsprochen, aber ohne Verbitterung, auch nicht mit Resignation, sondern mit ernstem Bemühen und oft humorvollem Verstehen des Menschlichen und .Unzulänglichem in der sichtbaren Kirche.

Die Themen der ersten Maiwoche bestimmten die Arbeiterinnen. Der gemeinsame Nenner war: die Frau in der neuen Zeit. Es kam ihnen nicht auf Details, auf Prognosen oder Utopien an, sondern auf eine wesentliche Antwort, welche Rolle die Frau in der heutigen Situation einnimmt und wie sich die einzelnen Weltanschauungen der Gegenwart zur Frau stellen. Was kann die Frau selbst dazu beitragen, ihre eigene Würde und ihr eigenes Sein darzustellen? Um allen Richtungen, die die Welt von heute beeinflußten und noch beeinflussen, gerecht zu werden, behandelten wir die Stellung der Frau im Nationalsozialismus, im Sozialismus, im Kommunismus, im Katholizismus. Ruhig und objektiv wurden die Anschauungen über die Frau nebeneinandergestellt und Vergleich und Schlußfolgerung dem Publikum selbst überlassen.

Die Arbeiterjugend beiderlei Geschlechts griff ihrerseits ein psychologisches und moralisches Problem auf und formulierte es: Eva—Maria. Die erste und die zweite Frau, die Frau am Anfang der Menschheitsgeschichte und die Frau, die uns den Heiland gebar. Während die Burschen ehrlich ihre Schwäche für eine Eva eingestanden — „eine Maria verehren, eine Eva begehren“ —, war bei den Mädchenscharen eine starke, kompromißlose marianische Einstellung bemerkbar, freilich mit der bangen Angst, bei solcher Einstellung vielfach von den Burschen übergangen zu werden. Die Jugend hatte so viele Fragen gestellt, daß wir die Abende einer ganzen Woche zu ihrer Beantwortung brauchten. Von der Aufgeschlossenheit unserer Wiener Klosterschnlen zeigt es, daß sich rund 1000 Mädchen ihrer Bildungsanstalten zur Teilnahme an dieser Woche anmeldeten. Aus Platzmangel und um der

Veranstaltung nicht den spezifischen Charakter für die Arbeiterschaft zu nehmen, konnten wir hier nur Delegationen zulassen. Auch diesmal war wieder ein Abend der sexuellen Aufklärung gewidmet, für den sich einzelne und ganze Gruppen besonders bedankten. Da zwischen dem Wissen und Wollen im Menschen eine breite Lücke klafft, interessierte das Thema „Wie werde ich damit fertig“ ganz besonders.

Jugend ist die Zeit der Liebe. Es dreht sich immer darum, was man liebt und wie man liebt. Das Wort „Liebe“ ist wohl am meisten mißbraucht und mißverstanden. Liebe geht oft Umwege und Irrwege. Als es galt, der Liebe den richtigen Weg zu weisen und wir „die schönsten Jahre unseres Lebens“ behandelten, da sahen wir die Scharen der Burschen und Mädchen in ehrlicher Ergriffenheit. Und das ist eine Jugend, die oft von weit her zur Kirche kam, nicht nur im räumlichen Sinne!

Unser „gläubiges Volk“ ist es nicht gewohnt, daß die Kirche Versammlungsraum für Kreise ist, die nur lose mit der Kirche verbunden sind, oft nur durch den Taufschein und einige Kindheitserinnerungen, und daß deshalb hier eine Sprache geführt wurde, die zunächst Kontakt aus den Bereichen des Alltags her sucht, die deshalb eine religiöse Terminologie nicht kennt. Fast täglich aber konnte man inter den Zuhörern Geistliche wahrnehmen, angefangen vom Stiftspropst und Provinzial, vom Kleriker des Stephansplatzes, bis zum einfachen Vorstadtkaplan. Ein Zeichen wohl, daß die Probleme der Arbeiterkanzel und der Wortgottesverkündigung an das kirchenfremde Volk den Klerus beschäftigen. Auch eine Anzahl von Protestanten machte den ganzen Monat hindurch mit, erwies sich als sehr aufgeschlossen und stellte auch Fragen. Auch „Bürgerliche“ nahmen Anteil an unseren Bemühungen. Von den Akademikern waren die Ärzte sehr bei der Sache, während bedauert wurde, daß derzeit zwischen dem katholischen Akademiker und Arbeiter nur wenige Verbindungsfäden bestehen und die soziale Frage vielfach ein Diskussionsthema für Soziologenzirkel geblieben ist.

Unter den sozialen Fragen, die zur Sprache kamen, stand das Wohnungsproblem weitaus an erster Stelle. Es ist für die breite Masse d i e Frage. Radikale Methoden werden zur Lösung gefordert. Presse und Propaganda jeder Richtung befassen sich mit dieser Frage aller Fragen oft in demagogischer Weise, so daß dem einfachen Manne eine klare Beurteilung der Sachlage fast nicht möglich wird. Daß kirchenfeindliche Strömungen notwendige Wiederherstellungsarbeiten an Kirchen und die erforderlichen Auslagen für einen würdevollen Gottesdienst hier hereinzerren, erreicht bei manchen Arbeitern den gewünschten Zweck. Im allgemeinen aber' erkennt der Arbeiter die Notwendigkeit der Beseitigung der Schäden auch im kirchlichen Räume. Eine besondere Sympathie wurde dabei den nebenkirchlichen Gebäuden, wie der Errichtung von Pfarrheimen mit Räumen für Jugend, Kinderhorte und religiös-kulturelle Bildung entgegengebracht.

Viele soziale Anliegen wurden vorgebracht, wobei man von der

Kirche weniger materielle als moralische Hilfe erwartet, daß sie nämlich das richtunggebende Gedankengut der katholischen Moraltheologie von der verteilenden Gerechtigkeit ins Volk tragen möge durch eine klare Verbindung zum täglichen Leben. Vor allem aber wurde verlangt, daß das soziale Gewissen der Menschen auch wirklich wachgerufen werde durch die Kirche!

Die Kirchensteuer bildete keine Streitfrage. Der Arbeiter zahlt seine Kirchenbeiträge, ist aber noch lange nicht so weit, seine Kirche nicht nur materiell, sondern auch moralisch zu unterstützen. Der Gedanke des Laienapostolats liegt der Arbeiterschaft noch ferne. Die ablehnende Haltung und kalte Schulter des Sozialismus der Kirche gegenüber wird fast allgemein als unklug empfunden.

Die wesentlichste Frage, die wir uns aber stellten, ist die, ob die Kirche in Österreich eine Zukunft hat. Diese Frage kann man nur dann mit Ja beantworten, wenn sie eine Jugend hat. Die Aussprachen mit vielen Jugendlichen aus den verschiedensten Wiener Bezirken zeigten deutlich auf, daß trotz aller heute von der Kirche geförderten Selbstregierung der katholischen Jugend doch der Jugendseelsorger das Herz und Hirn seiner Pfarrjugend sein muß und daß sie weit mehr seine Führung sucht, als sie selbst es sich oft eingestehen will. Die katholische Jugend steht und fällt mit ihrer geistigen Führung, den Jugendseelsorgern. Wo eine tüchtige, lebendige Pfarrjugend ist, dort kann man auf einen tiefreligiösen und zugleich zeitaufgeschlossenen Jugendseelsorger schließen. Manche Jugendseelsorger klagen über Mangel an apostolischem Geist in der Jugend und über satte Genügsamkeit im engen kirchlichen Bereich. Das kommt daher, weil man die Jugend vielfach unterschätzt und ihr keine Ideale und keine Opfer mehr zumutet. Was aber wäre eine Jugend, vor allem eine katholische Jugend ohne Idealismus, ohne Opfergeist? Und der lebt noch. Ein Beispiel: Damit niemand einen Abend opfert für ein Thema, für das er vielleicht kein Interesse hat, wurde immer am Vortag das Thema des folgenden Abends verkündet. Für den 23. Mai war in der Jugendwoche das Thema „Jungfräulichkeit“ angekündigt, mit dem Ziel, für Priester- und Ordensberufe zu begeistern. Wir benützten diesen Abend zu einer genauen Zählung. Es waren eintausendundzwanzig gezählte Teilnehmer in der Kirche. Wer möchte da noch zweifeln, daß viel aufbauender und hoffnungsvoller Idealismus gerade in der vielgeschmähten „Jugend von heute vorhanden ist?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung