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Begegnung mit dem alten Wien
Straßenbahnlinie 5: Während ich wartend den „Standard“ lese, spricht mich ein kleiner, alter 1 Ierr mit buschigen Brauen, sehr wachen Augen und großer Nase an: Wie ich die Qualität der Zeitung fände? Ob ich sie regelmäßig läse? Selbstverständlich antworte ich dem Unbekannten, wenn auch zunächst zögerlich und nicht sehr ausführlich. Er kenne den Chefredakteur, der sei sein Schüler gewesen, vor, ach vor vielen Jahrzehnten. Viel werde ich nicht zu sagen haben in den folgenden Minuten - ein paar Fragen genügen, um mich, als wir nebeneinander im Fünfer sitzen („weil fünf hintereinander kommen und dann keiner mehr“), ins alte .Wien zu versetzen, das Wien von Stefan Zweig, Elias Canetti und all den Juden, welche die Wiener Kultur getragen haben.
Er läßt mich raten, wieviele Sprachen er spricht oder versteht, und genießt es, seinen kleinen Triumph hinauszuzögern ... Also 17. Was denn eigentlich seine Muttersprache sei? Mit unverkennbar jiddischem Akzent erzählt er mir: Mittelhochdeutsch! Und mit fast kindlichem Stolz fordert er mich heraus: Wissen sie, was das ist?
Chemiker sei er gewesen, dann Sprachwissenschaftler. Schon vor einigen Jahren emeritiert, Deutsch sei nur seine fünfte Sprache, obwohl er seit 23 Jahren in Wien lebt und lehrt. Als ich ihn frage, wo er geboren sei, nähert er sich dem Ort auf umständlichen Wegen, beschreibend: so-und-so-viele Kilometer östlich von Brest-Litowsk, Namen nennend, die ich nie gehört. Seine Jugend im russischen Polen.
Nun möchte ich's doch wissen, was seine 17 Sprachen sind, neben Jiddisch, Bussisch, Polnisch, Hebräisch, Deutsch natürlich. Lateinisch, Englisch, slawische Sprachen ... „Alt-Hebräisch“ entfährt mir, was er nicht gerne hört. „Die Sprache der Bibel!“, stellt er mit Entschiedenheit fest. Doch mir scheint, er freut sich, als er hört, daß ich Theologe bin. Natürlich hätte ich auch Hebräisch gelernt am Anfang meines Studiums - aber leider nur kurz. Und Philosophie? Ja, wieder hat er ein Stichwort, um mich Jahrzehnte zurückzuführen mit seinem Charme, zwischen Friedensbrücke und Wallensteinplatz: in eine weitere, für mich unaussprechliche Stadt Polens, seine Mittelschule, als er gut gewesen in Philosophie.
Ich erzähle von der Fest-Show „Hava Nagila“, die Timna Brauer im Bonacher veranstaltet hatte, und wie begeistert ich war, berührt vom jüdischen Esprit: dem einen Geist, so spürbar und lebendig bei all den so verschiedenen Künstlern aus Usbekistan, Persien, Amerika, aus der Ukraine und dem Jemen ...
Und wie könnte es anders sein, in Wien, eine vor uns sitzende Frau, wohlgenährt, mit dünnem Haar und dickem Hut, schaltet sich ein ins Gespräch: „Entschuldigen Sie bitte, aber haben Sie schon einmal eine jüdische Hochzeit erlebt? Das ist so etwas Wunderbares. Ist das heute noch so?“, wendet sie sich an meinen Gesprächspartner. Ihre Augen leuchten und wir kommen noch einmal auf sein Mittelhochdeutsch zu sprechen. Auf seine Eltern und Verwandten, die Krieg und Holocaust nicht überlebten. Diese schmerzlichste seiner Erinnerungen durfte in unserem Gespräch nicht fehlen. Ja, auch mir tut es ehrlich weh. Und weh tut mir meine Frage, wieviele Menschen heute wohl noch seine Muttersprache sprächen? Wie lange es in Wien auch noch sein liebenswertes, jiddelndes Deutsch geben würde?
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