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Begegnung mit einem Arbeiter

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Vor dem Krieg, als ich noch in Wien daheim war, ging ich oft an stillen Vormittagen in Museen und Kirchen, um Bilder und Statuen zu betrachten, um mich an der köstlichen Mineraliensammlung des Naturhistorischen Museutns zu erfreuen oder den herrlichen Bau der Kanzel in der Stephans- kirche zu bewundern. Am Fuß der Kanzel hat bekanntlich ihr Schöpfer, der Baumeister Pilgram, sein eigenes Porträt in Stein gemeißelt angebracht, und vor diesem Kunstwerk hatte ich eine seltsame Begegnung, an die ich mich noch heute, so viele Jahre später, mit Freude und Rührung erinnere. Das Denkmal, das sich Pilgram selbst gesetzt hat, ist schlicht und einfach: das ernste, versonnene Gesicht schaut aus einefti halb- zeöffneten Fenster heraus, und ist dem Beschauer zugewendet.

„Schön ist das”, sagte jemand neben mir, „so bescheiden, als ob er nur noch einmal sehen möcht, ob er’s auch richtig gemacht hat.”

Ich wandte mich um und gewahrte einen älteren, seh einfach gekleideten Mann, der in wahrer Ehrfurcht dastand und die Kanzel betrachtete.

„Sie haben recht”, antwortete ich und wandte mich zum Gehen. Als ich schon aus dem Domtor treten wollte, sagte etwas in mir: nein, mit so einem Menschen sollte man mehr sprechen als einige gleichgültige Worte — und so ging ich zurück, fand den Mann noch vor einer gotischen Statue stehend, und wir kamen ins Gespräch. Ererzählte, er sei noch nicht lange in Wien, die schönen Kunstwerke, die prächtigen Gebäude hätten es ihm angetan, und so benütze er jede freie Stunde, um in der Stadt herumzuwandern und zu schauen. Ob er schon in den Museen gewesen wäre, fragte ich ihn. Er verneinte: „Zuhaus habe ich von meinem Großonkel ein paar alte Bilder geerbt, auf Holz gemalt, aber ich hab niemanden, der mir was zeigen könnt und von dem ich was lernen möcht auf meine alten Tage.”

„Wissen Sie was?” sagte ich, „ich fahre jetzt für ein paar Monate nach England, wo ich Konzerte geben werde, aber wenn ich zurückkomme, en wir einmal ins Kunsthistorische Museum, vielleicht kann ich Ihnen da allerhand zeigen und auch erklären.”

Er sah mich eine Weile prüfend und etwas mißtrauisch an und sagte dann: „Nein, das werden Sie nicht tun!” „Und warum glauben Sie das?” fragte ich. Er schüttelte den Kopf. „Nein, Sie werden es bestimmt nicht tun, denn Sie werden es vergessen — und wenn Sie’s auch nicht vergessen, werden Sie es doch nicht tun, denn Sie sind eine Dame, eine Künstlerin, wie ich ja g’rad gehört hab — und ich — ich bin nur ein ganz einfacher Fabrikarbeiter.”

„Na, und?” erwiderte ich, „wir wollen lieber sagen, daß wir beide Menschen sind, Sie — und ich auch. Sie haben Ihren Beruf und ich hab meinen.”

Er schüttelte nochmals den Kopf. „Da ist zuviel dazwischen”, sagte er und- wollte gehen. Ich bat ihn, mir wenigstens seine Adresse und seinen Namen aufzuschreiben, was er nach einigem Zögern auch tat, und ich las, in einer festen und ordentlichen Schrift hingemalt: Franz Miksche, Arbeiter, Wien, X., Favoritenstraße 98.

Der Sommer war vergangen, ich hatte meine englische Reise beendet, die Musiksaison mitgemacht, die Anfang Mai beginnt und Mitte Juli ihren Höhepunkt erreicht. Wenige Tage nach meiner Heimkunft schrieb ich Herrn Franz Miksche, ich wäre nun wieder hier, und erinnerte ihn an unsere Verabredung, ins Museum zu gehen. Er solle, wenn’s ihm recht wäre, kommenden Sonntag um 10 Uhr vormittags mich vor dem Portal des Haupteinganges erwarten. Als ich kam, stand er schon da, in einem schönen Sonntagsanzug mit neuer Krawatte, er hatte sogar Handschuhe angezogen und sah freudig und erwartungsvoll aus.

„Sie müssen schon entschuldigen”, sagte er nach der Begrüßung, „daß ich damals so mißtrauisch zu Ihnen war, wissen S’, man hat so seine Erfahrungen, und da glaubt man …”

„Das ist traurig für die andern”, erwiderte ich. „Aber deswegen sollen Sie nicht bitter sein, wir werden jetzt viele herrliche Bilder anschauen und vergessen, daß es dumme oder ungerechte Leute gibt.”

So machten wir uns auf die Wanderung durch viele Säle, und mein Begleiter war ganz bestürzt über die Menge der Bilder, so daß er nicht wußte, wohin er zuerst schauen sollte. Anfangs beschäftigte er eich meist nur mit den dargestellten Motiven und sagte:

„Das scheint mir ein schönes Haus sein und eine schöne Landschaft rundherum, aber warum kann’s mir doch nicht so recht gefallen?”

Als ich ihm erklärte, man solle erst versuchen, zu sehen, ob ein Bild schön gemalt sei und dann erst schauen, was es darstelle, wurde er ganz eifrig:

„Ja, da hab’n S’ recht, sehn S’, daran habe ich noch nie gedacht, da hab ich jetzt schon was gelernt, ich schau immer erst, was auf einem Bild ist, und das ist bestimmt nicht richtig, es ist aber so, wie Sie es sag’n, ich seh’s jetzt: wenn eine schöne Landschaft schlecht gemalt ist, gefallt sie mir doch nicht.” So vergingen zwei Stunden in anregenden Gesprächen und wir schieden wie alte Bekannte.

Einige Monate später gab ich einen Klavierabend und schrieb Herrn Miksche, ob er Zeit hätte, das Konzert als mein Gast zu besuchen; ich würde ihm eine Karte schicken. Seine Antwort war sehr traurig. Er schrieb:

„Sehr geehrte Künstlerin!

Ihr Brief hat mir viel Freude gemacht, nämlich, daß Sie an mich gedacht haben. Aber kommen kann ich nicht. Ich kann keine Musik mehr hören, seitdem meine gute Frau gestorben ist. Schöne und ernste Stücke machen mich traurig und lustige Sachen tun mir weh und machen mir einen bitteren Geschmack im Mund; also ist das nichts für mich. Sind Sie nicht bös! Mit Gruß! Ihr dankbarer E. M.”

Ich ließ mich aber nicht irremachen, sondern schrieb zurück:

„Lieber Herr Miksche, das, was Sie sagen, kann ich gut verstehen, aber es ist doch nicht recht, daß Sie nicht kommen wollen. Es gibt einen schönen Spruch, der heißt: ,Musik kommt vom Himmel und ‘geht zu Gott.’ Vielleicht denken Sie daran und werden dann doch kommen.”

Dem Brief legte ich eine Eintrittskarte bei, und als ich dann am Konzertabend das Podium betrat, sah ich Herrn Miksche auf seinem Platz sitzen. Er blieb, wie ich bemerken konnte, bis zum Schluß, und wenige Tage später bekam ich einen Brief von ihm, der mich tief bewegte. Er schrieb:

„Ich muß mich jetzt schämen, daß ich Ihre liebe Einladung erst so beantwortet hab. Ich bin dann doch gekommen und es war für mich ein großer Feiertag. Wenn man so allein lebt wie ich und niemanden kennt, mit dem man sich ausreden kann, dann wird halt einer so menschenscheu und es freut ihn nichts mehr. Aber so eine Musik, wie Sie neulich eine gemacht haben, ja, das ist schon was, ich hab beinah weinen müssen, aber ich war doch wieder nicht traurig dabei. Und dann, wie ich wieder zu Hause war, vorm Einschlafen habe ich mir gedacht, wenn’s bei mir einmal zum Sterben kommt, dann möcht ich halt mit so einer Musik hinüber in die andere Welt. Ihr dankbarer F. M.”

Dann war Weihnachten. Ich hatte drei Christbäumchen besorgt, eins für uns selbst, eins für die Kinder meiner Wäscherin und das dritte für Herrn Miksche. Dieses hatten wir besonders schön geschmückt mit Silberketten, schönen Schokoladebehängen, Lebzelten, Marzipan, winzigen roten Äpfeln und vergoldeten Nüssen. Ganz oben war ein Engelchen aus weißrosa Wachs angebracht, in einem Brokatkleidchen; und besteckt war der Baum mit bunten Kerzen in allen Farben. Cäcilie, mein Hausmädchen, hatte den Baum mit unendlicher Sorgfalt ‘‘n eine Hülle von Seidenpapier verpackt und ihn mit Weihnachtsgrüßen von mir in die Favoritenstraße 98 gebracht. Herr Miksche wiar zu Hause, wollte aber zuerst nicht glauben, daß das Riesenpaket für ihn sei, erst als sie versicherte, es käme von mir, nahm er es mit Staunen entgegen. Cäcilie erzählte, er habe eine kleine, sehr saubere Wohnung, eine Küche und ein Zimmerchen mit einfachen Möbeln, eine Petroleumlampe über dem Tisch und ober dem Bett sei eine Photographie von seiner Frau gehangen mit einem Kranz von Tannenzweigen umgeben. Auf dem Tisch war ein Teller mit Äpfeln, sonst nichts. Ich freute mich, zu wissen, daß er nun doch auch einen kleinen Baum habe. Und sein Dankesbrief war voll Staunen und Überraschung.

„Nie habe ich noch von jemandem einen Weihnachtsbaum bekommen”, schrieb er. „Zu Hause in Böhmen war’n wir so arm, daß es höchstens ein paar Nüß gegeben hat und einen weißen Wecken zur Suppe zum Nachtmahl, und später haben wir immer nur einen Kranz gehabt mit vier Kerzen; meine Frau hat so oft geweint am Christabend, daß wir allein geblieben sind und kein kleiner Bub oder ein kleines Mädel dabei war. Ich hätt’ nur gewünscht, daß sie hätt’ den Baum sehen können, den Sie mir g’schickt hab’n. Mein Gott —, ich bin mir selber beinah wie ein kleiner Bub vorgekommen und hab immer wieder alles an- schaun müssen, die feinen Zuckerln und die roten Äpfel und die silbernen Ketten, und gar das schöne Engerl ganz ob’ndrauf. Jetzt hätt ich halt eine Bitte, wenn’s nicht unhöflich ist von mir: ich möcht Sie frag’n, ob Sie mich alten Mann einmal aufsuchen können. Ich möcht einen Nußstrudel kaufen und einen guten Kaffee kochen und mich noch einmal bei Ihnen bedanken. Denn wenn die Menschen so wär’n, wie Sie zu mir sind, dann möcht es nicht soviel Bitternis geben auf der Welt und keinen Klassenhaß, wie die Leut so oft sag’n. Ich hab von Ihnen gelernt, man soll die Menschen nicht verachten, sondern gern haben. Wenn das nur recht viele lernen möchten.”

Diese schönen Worte erreichten mich erst nach einigen Wochen, denn ich war auf einer Reise und hatte mir die Post nicht nachschicken lassen. Herrn Miksche schrieb ich gleich nach meiner Rückkunft, und wollte ihn am folgenden Sonntag besuchen, aber mein Brief kam zurück, und auf dem Umschlag stand:

„Adressat verstorben.”

So endete meine Begegnung mit dem Arbeiter Franz Miksche, und ich schäme mich nicht, zu sagen, daß ich um ihn geweint habe, denn ich hatte in ihm etwas Schönes und Seltenes kennengelernt: einen wahren Menschen, den ich nicht vergessen werde.

Wiener Staatsanwaltschaft eine andere Rechtsauffassung als das Bundesministerium habe. Unnötig, zu betonen, wie sehr all dies dem Ansehen der Rechtsprechung schadet! Hier zum Rechten zu sehen, ist ein Gebot deę Stunde. Es darf nicht übersehen werden, daß diese Erscheinungen nicht nur in politischen Strafprozessen vorkommen. Eine Wiener Tageszeitung hat in beachtenswerten Ausführungen erst dieser Tage gleichartige Vorkommnisse auch in der allgemeinen Strafrechtspflege festgestellt. Gewiß ist das Volksgerichtsverfahren solchen Erschütterungen in besonderem Maße ausgesetzt. Aber mehr als dessen Überführung ins ordentliche Verfahren ist vonnöten: die Änderung gesetzlicher Bestimmungen, die meines Erachtens unabweislich wird, seit Bedenken namhafter österreichische!8 Juristen auch von der Kommission für Menschenrechte gebilligt werden. Schon der führende österreichische Strafrechtslehrer Professor Dr. Rittler erklärte es („Juristische Blätter” 1948, S. 326) als unbedingbaren Grundsatz, es dürfe keine Gesetze geben, die ex post Handlungen unter Strafe stellen, die zur Zeit ihrer Begehung mit dem Recht, das damals galt, im Einklang standen,’ den sonst schaffe man „nicht echtes Strafrecht, sondern nur ein ihm äußerlich ähnliches, aber im Wesen verschiedenes Vergeltungs- und Racherecht”. Es sind geradezu erlösende Töne, wenn nun in Lake Success die von den Vereinten Nationen eingesetzte Kommission für Menschenrechte am 19. Juni 1948 in ihrer „Erklärung der Menschenrechte” in Artikel 9 es nicht nur als gesetzliches oder als Verfassungsrecht, nein, als Menschenrecht erklärt:

1. Jedermann, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, bis seine Schuld in Übereinstimmung mit dem Gesetz durch ein öffentliches Verfahren bewiesen ist, bei dem er alle Garantien besaß, die zu seiner Verteidigung erforderlich waren.

2. Keiner soll eines Vergehens für schuldig angesehen werden, auf Grund einer Tat oder Unterlassung, die zur Zeit, da sie begangen wurde, weder nach nationalem noch nach internationalem Gesetz ein Vergehen war.”

Nun ist es als Menschenrecht erklärt, was auch dem angeborenen Sinn für das Recht entspricht! Nie werde ich ein Erlebnis vergessen, das mir einprägsam bewies, daß dem Österreicher der Sinn fürs Recht im besonderen eignet. Als Verteidiger bei Kriegsgerichten fiel mir gelegentlich die Zuschrift eines heimatverbundenen Bauern in die Hände, der in seinem Schreiben an den Gerichtsherrn im Überprüfungsverfahren die Änderung eines gegen seinen Sohn gefällten Urteils verlangte, weil die Gesetze nicht seinem Rechtsgefühl entsprächen, und er schloß seine Ausführungen mit den schlichten Worten: „Diese Rechtsprechung gehört nachgeeich t.”

Nachgeeicht gehört heute unsere Gesetzgebung dort, wo sie den Ewigkeitswerten des Rechts nicht Rechnung trägt. Daß es aber solche gibt, spricht überzeugend Karl Zudcmayer in seiner wirklichkeitsnahen Schöpfung „Des Teufels General” aus. Als sich der Dichter bei der 50. Aufführung dieses seines Dramas vor dem begeisterten Wiener Publikum immer wieder bedankte, war Anlaß zu dieser Begeisterung auch jene Stelle, in welcher der Dichter vom ewdgen Recht also spricht:

„Harros: Was ist es, das ihr mehr liebt als •uch selbst? Woran ihr glaubt, worauf ihr hofft — sosehr, daß ihr dem Nero trotzt und seinen Gladiatoren? Ist es des Himmels Gnade? Ist es das Recht auf Ärden?

Oderbruch: Beides in einem. Es ist das ewige Recht.

Harras: Was ist das ewige Recht?

Oderbruch: Recht ist das unerbittlich waltende Gesetz, dem Geist, Natur und Leben unterworfen sind. Wenn es erfüllt wird. —t heißt es Freiheit.”

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