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Begegnung mit ödipus

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Silvestertrubel in der modernen Millionenstadt Athen: nicht weniger banal und nur mit einigen Nuancen noch lärmender gefeiert als in den sonstigen Metropolen einer abendlichen Welt, die sich zwischen den Kriegen schon wieder zu langweilen anfing. „Uso“ heißt dort das Feuerwasser, das die Geister oder wenigstens die Lärmgeister weckt.

Wenn das Getränk und der Grad des Lärmes nur den Unterschied macht: warum dann nicht lieber Delphi — zur Jahreswende? In Cooks Reisebüro hatte ich am Nachmittag unter anderen Tourenvor-schlä-gen auch diesen angeschlagen gefunden: Delphi, 3 Tage, im Fordwagen, 3 bis 4 Teilnehmer! Und hatte stehenden .Fußes dafür gebucht.

Nun saßen die drei geforderten Teilnehmer, wie sie der Zufall zusammengeweht, auf der halboffenen Terrasse des Hotels am Omoniaplatz und warteten. Omon'nplatz, das heißt auf französisch: Place de la Concorde! Und der jüngere Bruder hat schon nicht weniger Zwietracht der Menschen und Bürger gesehen als die ältere Schwester.

Wir saßen und warteten. Es war so warm, daß man ohne Überzieher sitzen konnte.

Wir warteten seit zwei Stunden auf die Abfahrt! Ich fand das Hinabblicken auf den unter Bogenlampen sich immer stärker und heftiger stauenden Verkehr der Vehikel und Fußgänger weniger unterhaltend als die Vorstellung, wie es hier ausgesehen haben mochte, als der Mittelpunkt der ,jganz alten“ Welt noch nicht die gradlinige Prachtstraße hatte mit den klassizistischen Fassaden — Eine davon: die „Akademie“! Piaton erfand den Namen für seine Schule der Weisheit, die noch keine Schulweisheit kannte, und sammelte seine Schüler, unter einem Blätterdach. Wir haben es weiter gebracht, wenigstens mit der Fassade.

Um von der Ungeduld eines der Teilnehmer abzulenken, die mit Fingertrommeln und halben Bemerkungen auf die Vierte an unserem Tische gemünzt war, unsere ebenfalls von Cook gestellte Führerin, sprach ich meine Gedanken laut aus. Sie dankte es mir mit einem Blick aus den tiefschwarzen Augen. Es war eine junge Griechin mit ebenso schwarzem, im Nacken geknotetem Haar: Malerin, die sich auf diese Weise ihr Studium erleichterte. Vom Vater, einem kretensischen Arzt, hatte sie das empfindliche Nationalgefühl geerbt.

Ein ungewöhnlich nahes Rattern und Knattern am Hoteleingang brachte die Entspannung: Cooksx Agent in Person sprang heraus und zu uns die Stufen herauf. Sein erster Fahrer war dem Rausch des erhofften Verdienstes vorzeitig erlegen: das war des Rätsels höchst alltägliche Lösung! Schwer war es dann gewesen, aus dem flutenden Verkehr einen gleich hochbeinigen Ford herauszufischen, wie man ihn braucht zur Fahrt ins Gebirge — setzte er entschuldigend hinzu.

Ob es mit dem zweiten besser gehen würde: daran konnte man aus seinem mehr als beflissenen „Gute Reise! Gute Reise!“ und aus dem leisen Stoßgebet des uns Nachwinkenden„ als der Motor nach einigen Fehlzündungen wieder angesprungen war, gewisse gelinde Zweifel heraushören. Er hatte es jedenfalls geschafft!

Draußen frischte der Nachtwind auf, und je mehr wir uns aus dem Weichbild der Stadt mit ihrer “ zeitgemäßen Lärmsymphonie entfernten und je mehr die Löcher und Steine auf unserer Bahn zur Vorsicht zu mahnen schienen, desto kräftiger trat der Mann am derzeitigen Lenkrad unseres Schicksals auf den Gashebel. Kein Zweifel: die Fahrstraße wurde zur Gefahrenstraße!

Eine halbe Stunde vor Mitternacht war es so weit: Motorpanne! Die Szenerie hatte sich längst von der attischen Ebene zum großartigen, schluchtenzerrissenen Kü-lissenspiel der in ihrer Kahlheit von der Nacht noch gespenstischer getürmten Berge gewandelt. Wir waren in den Bereich der Felsenabgeschiedenheit der Musen, in die erhabene Nähe des Parnaß gedrungen! Es war die Straße, die einst der junge ödipus gezogen: in der Meinung, vom Pflegevater in Korinth hinweg dem Orakelspruch zu entfliehen, der ihn vor Vatermord warnte; nur, um in die Schlingen eben dieses angedrohten Schicksals zu fallen, als sein wahrer Vater, von Theben kommend, seinen Weg kreuzte und sperrte.

Im Hochtal vor der letzten Rampe zum Engpaß, die im Dämmerschein der mond-' los klaren Nacht noch eben auszumachen war, lagen wir — blockiert vom Motorteufel! Nach einigen verzweifelten Blicken in das Gehäuse und sachverständig formulierten Verwünschungen gab der Fahrer auf. . . *

Die kleine Malerin fing meine Frage auf: „Dort also setzte das furchtbare Geschick zum Sturz der Größe an — wie eine Steinlawine? Meint man nicht ihr Donnern noch immer durch die bohrende Stille zu hören?“

Und halblaut, zu ihr gebeugt, hasteten meine Worte weiter: „Sollte der Wagen durch ein Wunder wieder in Gang kommen, so mflßce er uns ja einholen, wenn wir vorausgingen. Kommen Sie!“

Geheimnisvoll, unwiderstehlich zog es mich an die Rampe! In jenem Augenblick, in dem nicht nur ein Tag, sondern ein Jahr wechselte, in dem jedem — selbst im fröhlichsten Gästeschwarm — die- Frage befällt, welches Schicksal auf ihn warte. So nahe der uralten Orakelstätte Delphi, wie mußte die gleiche Frage vom winzigen Kreise des Einzelseins hinüberschwingen in die riesige Bahn der Schicksalsringe, die, so unsichtbar wie' undurchdringlich, unsern Erdball umschlingen!

Und wirklich: zur Mitternacht, auf die Sekunde genau, erreichten wir unser Ziel, den “Fuß der Rampe. Durch eine Weg-biegung hinter uns schließend, hatte das umgebende Bild die Schauer nicht zu überbietender Einsamkeit, und Wildheit über uns ausgegossen! In senkrechtem Abfall mehrere hundert Fuß hoch, wie in einen Felsenschacht abgeteuft, zeigte die Rampenwand sprechend, wie tödlich hier 'der Zusammenstoß auf schwindelndem Pfade gewesen sein mußte: freilich nur, wenn, vom Selbstgefühl gepeitscht,' keiner dem anderen den Weg freigab.

Während ich vom Grunde wie gebannt hinaufschaute, zog auf einmal ein zuerst lockeres, aber in der Enge der Schlucht doch schon Schatten rfendes Gewölk unter dem beinahe fiebernd gesteigerten Flimmern der Sterne hinweg. Und immer tiefer und schärfer folgten sich die Schatten..*

Da spürte ich, wie die Führung von meiner Begleiterin auf mich überging. Wortlos, aber von gleichgestimmten Sinnen wortlos verstanden, deutete ich ihr die schreckliche Spiegelung unseres Wahrtraumes: war in dem Schatten nicht jetzt der riesige Umriß eines Greises, der, mehr wankend als schreitend, den einen Fuß nachschleppte, die Blöße des gebeugten und doch herrischen Körpers von dürftigen Lumpen kaum bis zu den Knien bedeckt?! Und wenn ein Luftzug das. bergende Tuch von dem königlichen Antlitz lüftete„ zeigte es sich nicht verwüstet durch seine, toten Augen?

Und langsam bewegte sich ein anderer Schatten auf ihn zu; auch ein Greis, auch mit erloschenen Augen, aber in hoheitsvoller Unnahbarkeit den Gebeugten überragend: Teiresias, der Seher, der Ankläger wider den Vatermörder„ wider den Blutschänder mit der leiblichen Mutter!

Uhd s o formte sich dem Unerbittlichen entgegen jetzt aus den toten Lippen die wilde Klage d?s Schuldigen, des vom Schicksal zur Schuld Verdammren.

„G erechtigkei t!“, las ich den stummen Schrei seines Mundes. „Gerechtigkeit! War mein Frevel nicht nur, was ich nicht wußte? Und was ich wissend tat, Wohltat für mein Volk? Befreite ich es nicht von der Angst' vor der Sphinx, die den Wanderer über diese Straße tückisch belauerte?“

„Einen gegen — hundert, die in ihren Betten an der Pest verfaulten, mit der die Götter deine geheimen Sünden .straften“, formte es sich hart von den Lippen des Wahrheitkündenden zurück.

„Warum ließen die Götter mich nicht in Unschuld sterben, als man den Neugeborenen mit dem Schleppfuß ausgesetzt?“

„Auch die Orakel reden nur von dem Möglichen, nicht von dem Unvermeidlichen: trotz des Gebrechens bäumte sich dein Trotz zum Griff nach fremder K'önigs-würde.“

„— die mir als rechtes Erbe zugefallen wäre!“

„Das — wußtest du auch nicht, so wenig du wußtest, wen du von diesem Engweg hinabstießest, und daß dein Blut nach deiner Mutter schrie —?“

„Warum aber säte ich volkweites, Verderben mit Taten, die nur meine eigenen waren? Warum machte es nicht halt unter den Stufen meines Palastes?“

„Die Schuld der Könige fällt über ihr Volk!“

„Und — ihre Sühne auch?“ „Ihre Sühne auch!“

„So will ich meinen Ruf nach Gerechtigkeit in meiner Seele begraben — und keiner dürfe auf mein Beispiel weisen, der ihn, in Schuld verstrickt, nach mir erhebt!“

„Du gehst den Weg zur Ruhe deiner Seele —“

Formte der Schatten des ödipus noch eine Antwort? Ich weiß “es nicht; denn vor meinen heißgestarrten Augen flössen die beiden Schatten ineinander und zergingen dann im schwarzen Samt des-' wieder Sternenreichen Äthers' der Nacht.

Die Mitternachtsstunde war vorüber.

War sie? Wie denn? Ein Rauschen von Flügelschlägen, unsichtbaren übermächtigen Flügelschlägen löste ihre Totenstille ab: Geistern von Schuld und Schicksalen, die noch nicht waren und die am Kreuzweg einer Zeitenwende warteteten — — warteten auf das Stichwort zu ihrem unabwendbaren Geschehen — —

„Haben Sie das auch gehört?“

Ich sprach es zu dem fremden Mädchen, das mir am“ einmal am nächsten unter allen Menschen schien, und sah erst jetzt, daß sie zusammengekauert war, als suchte sie Deckung vor dem Sturmpfiff!

So kauerte Kassandra, unter den brandzerfressenen Mauern ihrer Vaterstadt, auf dem Streitwagen des in sein Unheil heimfahrenden Siegers Agamemnon, dem größeren Grausen entgegen, dessen ferner Feuerschein ihre durch die Nacht der Zeiten dringenden Augen weitete.

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