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Begegnung zweier Welten

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Brazzaville, im Dezember

Mancher mag sich gewundert haben, als der Senegalese Sedar Senghor im Straßburger Parlament eine Erweiterung der Europäischen Union auf afrikanische Gebiete befürwortete und für die Aufnahme afrikanischer Abgeordneten ins künftige Europäische Parlament eintrat. Mögen dabei auch politische Erwägungen mitgespielt haben, so kann doch kein Europäer, der Verantwortungsgefühl für die Zukunft unseres Kontinents besitzt, einer solchen Entwicklung der eurafrikanischen Beziehungen teilnahmslos gegenüberstehen. Ist es nicht für uns Europäer eine wirklich ermutigende Tatsache, daß in dieser schicksalschweren Epoche, in der der Einfluß Europas überall auf der Welt absinkt und überseeische Kulturen sich in neuem nationalistischen Wahn gegen fremde Einflüsse absperren wollen, um einer selbstgefälligen Kulturautarkie zu huldigen, Vertreter einer fremden Rasse und Weltanschauung sich zu einer wechselseitig befruchtenden Mitarbeit unserer beiden Gemeinschaften bekennen? Wir sehen darin ein Zeichen, daß eine der besten Eigenschaften des europäischen Denkens, seine Aufnahmebereitschaft für das Gedankengut anderer Völker und seine Ueberzeugung von der Notwendigkeit der gegenseitigen Befruchtung verschiedener Kulturen, auch außerhalb unseres Kontinents willig empfangen worden ist.

Die Persönlichkeit Senghors ist für diese neue Entwicklung Afrikas — ich denke besonders an Französisch-Afrika — bezeichnend. Aus dem Senegalesen-Bauernstamme der Sereres stammend, im afrikanischen Mutterlande daher fest verwurzelt, studierte er in Paris und wurde, als erster seiner Rasse, Agrege de I'Universite. Seine Eigenschaft als Katholik gibt ihm eine gediegene und alle Nationen umfassende Lebensanschauung. Abgeordneter im französischen Parlament, Essayist und Dichter, ist er zum Wortführer jener französischen Negerkultur, die jetzt ihre Daseinsberechtigung im französischen Kulturkreise erhalten hat, geworden. Als Senghor einige Jahre nach Kriegsende im Verlag der Presses Universitaires de France eine Anthologie der modernen französischen Negerdichtung herausgab, wurde sie zur wahren Offenbarune einer wenig bekannten Kulturentwicklung. Die lange und gründliche Studie, welche Sartre im Vorwort dieses Buches der Negerschule widmete, zeugte vom Ernst und Interesse, mit denen man den neuentdeckten Dichtern entgegentrat.

Diese neue Schule hat sich zuerst in Amerika, in den Antillen, deren Bevölkerung meistens aus weißen und schwarzen Mischlingen besteht, entwickelt. Der erste große Dichter, der Surrealist Aime Cesaire, trat als Vorkämpfer einer früh entwurzelten Bevölkerung auf, die, der Sklavenzeit noch eingedenk, sich zu einer neuen, rassenstolzen aber doch im Grunde europäisierenden Anschauung emporzuheben versuchte.

Die Bewegung breitete sich bald von den Antillen, wo Französisch die Muttersprache der Einwohner ist, nach Afrika aus, wo Französisch nur von der kulturellen Elite gesprochen wird. Eine Reihe von Dichtern, Romanschriftstellern und Erzählern (Senghor,

Fodeba, Hazoume, Souce, B. Diop usw.) bemühte sich, eine neue Kultur aufzubauen, die, unter Wahrung der klassischen europäischen Form (Afrika kannte bisher fast nur eine Volksliteratur), deren Vorbild für sie Frankreich ist, in ihrem inneren Kern von afrikanischen Gefühlen und afrikanischer Weltanschauung bestimmt wird.

Es verleiht diesen Schriftstellern eine besondere Bedeutung, daß sie sich immer, im Unterschied zu manchen amerikanischen Negern, ihrer Beziehung zum afrikanischen Lande bewußt sind. Die allgemeine Grundlage des afrikanischen Lebens ist ein starkes soziales Gefüge, das von der allgegenwärtigen und allmächtigen Familie, dem Klan, zusammengehalten wird. Der Afrikaner hat eine große Verehrung für die Person, als einem unantastbaren ethischen und geistigen Wert — Materialismus und Atheismus sind hier unbekannt —, hegt aber keine besondere Vorliebe für den Kultus der Persönlichkeit. Sein Ziel ist die Bildung eines Menschen, nicht einer einzigartigen Person. Aus diesen Prämissen versteht es sich, daß die afrikanische Kultur den engsten Kontakt mit dem Leben ihres Volkes zu haben strebt und ständig an den Problemen, die es berühren, arbeitet: in den Antillen an der menschlichen Erhöhung einer Bevölkerung, die zur Sklaverei verdammt worden war; in Afrika an der Verwertung des bodenständigen afrikanischen Kulturgutes, an der Zusammenarbeit mit den europäischen Völkern und am Erwachen eines nationalen Selbstgefühles.

Die Träger der Kultur sind daher, mehr noch als in Europa, die Vermittler des Willens des Volkes und stehen in engster Verbindung mit den sozialen und politischen Veränderungen und Erschütterungen des schwarzen Kontinents. Die Bezeichnung eines „Intellektuellen“ hat hier keinesfalls, wie manchmal in Europa, einen leicht verächtlichen Beigeschmack.

Es bildet eine der erfreulichen Tatsachen in unserer dunklen Zeit, daß sich jetzt in Afrika eine neue Elite durchsetzt, die an die Gültigkeit einer Zusammenarbeit mit den einstigen Kolonialherrschern glaubt. Die Kolonialpolitik hat trotz ihrer Mängel dem Lande ökonomische Fortschritte gebracht und es von der Notwendigkeit einer Mitarbeit mit vorgeschrittenen Völkern, um sich an die moderne technische Welt anpassen zu können, überzeugt. Die Afrikaner haben auch verstanden, daß ein Rückhalt an ihrem eigenen Kulturgut unerläßlich ist. Das Bewußtsein, in einem schicksalsschweren Augenblick ihrer Rasse zu leben, wird der Elite den Mut geben, zum Volke zu stehen und anderseits mit den Kräften mitzuarbeiten, die der technische und kulturellen Entwicklung des Landes helfen können.

Die afrikanische Weltanschauung war an einfache Verhältnisse angepaßt und muß, um mit deren Aufhören nicht zu sterben, das neue Milieu, welches technische und wissenschaftliche Elemente unbedingt aufnehmen muß, in einer mit ihrer Geisteshaltung verträglichen Form gestalten. Die materiellen Bedingtheiten (ökonomische Unabhängigkeit, Entstehung einer Elite technisch geschulter Kräfte, unabhängiges soziales und kulturelles Leben) setzen aber eine vorbereitende kulturelle Reife und Ausbildung voraus.

Zuerst braucht man ein an ein kollektives Leben angepaßtes Milieu. Es sind solidaristi-sche Arbeitsgemeinschaften notwendig, wo die Arbeit gemeinschaftlich mit anderen ausgeführt werden kann; es darf aber kein leerer, nur materiell bedingter Kollektivismus sein, sondern ein Solidarismus, in dem jeder vom anderen abhängt und ihm sowohl bei der Arbeit wie in jeder anderen Lebensangelegenheit hilft, und wo alle moralischen Werte gepflegt werden. In der religiösen Lebensauffassung der Afrikaner ist ein rein materieller Kollektivismus undenkbar. Ein Teil der Beziehungen, die einst Klan-Mitglieder miteinander verbanden, muß auf die Arbeitsgemeinschaft übertragen werden. Eine ausgeglichene Entwicklung der Gewerkschaften und der Mitarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern erscheint daher äußerst wünschenswert.

Die christliehe Religion wird, besonders in

Zentralafrika, eine Ablösung der tiefen menschlichen Bindung, die der Ahnenkultus darstellte, bieten müssen. Das moderne Christentum, das sozial denkt und in der christlichen Gemeinschaft, in der Kirche, im geheimnisvollen Leib Christi die Grundpfeiler einer christlichen Gesellschaft anerkennt, ist für ein solches Unternehmen besonders geeignet.

Man kann die Frage auf werfen: Ist es möglich, daß Afrika im Kontakt mit der technisch höheren europäischen Zivilisation seine Eigenart beibehält, oder ist es unvermeidlich, daß es von der unserem modernen Milieu vollkommen angepaßten abendländischen Kultur aufgesaugt wird?

Vorausgesetzt, daß jede Kultur vergänglich ist und, falls ihre Träger es wollen, aussterben kann, scheint es, daß die afrikanische Weltanschauung etwas ganz Eigenartiges darstellt, in ihrem Volke fest verankert und an die moderne Welt anpassungsfähig ist. *

Was unsere technische Welt jetzt sucht, ist ein Gemeinschaftssinn, ein Solidarismus, der die Menschen befähige, die technischen Mittel zu beherrschen und sie gemeinschaftlich zum gemeinsamen Wohle zu benützen. Dieser Gemeinschaftssinn ist gerade das Wichtigste, was die Neger zu bieten haben; er gehört nicht überalteten Lebensanschauungen an, er ist ganz aktuell.

Die freudige Teilnahme am Leben des Kosmos, eine „katholische“ Liebe zu allem Lebenden, eine große emotionelle Kraft, ein besonderer Sinn für die Einheit des Menschen, Blut und Seele, werden Afrikas Originalität beweisen.

Eine verschwommene unoriginelle Mischung afrikanischer und europäischer Kulturelemente darf nicht als letztes Ziel eurafrikani-scher Zusammenarbeit gelten. Wie von afrikanischer Seite öfter betont worden ist — in Senegal von Senghor, im Kongo von Lomami Tchibamba —, handelt es sich um eine gegenseitige Befruchtung selbständiger Kulturen.

Aus der Begegnung zweier verschiedener, aber sich nicht ausschließender Kulturen kann eine große eurafrikanische Kultur entstehen. Sie wird kein Hindernis der afrikanischen Kulturentwicklung sein, denn oft sind die gemischten Kulturen — „les civilisations me-tisses“ — hervorragend (Senghor). Es wird sicher in Zukunft eine gegenseitige Befruchtung abendländischer und afrikanischer Kulturformen stattfinden, deren Anfänge derzeit in Amerika am besten bemerkbar sind, wo Musik, Dichtung der Spirituals, der Blues und andere Kulturerscheinungen die Möglichkeit und den hohen Wert solcher Wechselwirkung bezeugen. Große Kulturen entsprangen oft einer doppelten Quelle, die ihnen inneren Dvnamismus, Spannung und Originalität verlieh.

In seiner gegenwärtigen Isolierung ist es für Europa ermutigend, in der Zusammenarbeit mit Afrika eine internationale Mentalität bewahren zu können, die ihm gestatten wird, auf einer höheren Ebene seine weltumfassende Sendung zu erfüllen.

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