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Begegnungen mit Atatürk

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Unwandelbar heroisches Landschaftsbild unter einem überschwänglich blauleuchtenden Himmel — Hellespont, vielbesungene, ruhmreiche Meeresstraße homerischer Helden!

Zwischen Festungen und Felsenburgen schmiegen sich friedlich türkische Ortschaften. Hinter befestigten Meeresschlössern und mittelalterlichen Türmen auf Hügelkuppen blauen ferne Berge. Weit drüben liegen Dämme von Ausgrabungsschutt — der Stadthügel von Ilion. Schwermütig, menschenleer breitet sich die Troas, nur Schafherden ziehen über krautwürzige Weiden; undefinierbarer Duft Anatoliens grüßt uns Heimkehrende. Der Dampfer hält vor der Stadt Tschanäk Kale, ein Boot bringt zwei Herren von der Paßkontrolle an Bord, freundliche Polizeibeamte, die bis Istanbul mit uns reisen werden.

Tumuli des Aias, des Achilles und Patroklus ragen auf. Hier veranstaltete Alexander der Große Wettkämpfe zu Ehren der Helden. Lord Byron durchschwamm die Furt an dieser Stelle, das türkische Heer setzte sich unter Süleyman I. 1357 hier fest. Der Herr der neuen Türkei, Mustafa Kemal, hat hier die starke englische Flotte zum Rückzug gezwungen. Da ich davon spreche, sagt einer der beiden Beamten: „Sie scheinen nicht zu wissen, was geschehen ist."

„Nein. Seit zwölf Tagen sind wir auf der See, kümmerten uns nicht um die Welt,“

Er legte einen Zeitungspack auf den Tisch. „Da, lesen Sie!“

„Atatürk ist tot, tot!“ Er sagte es mit ein?m Beben in der Stimme.

Gleichwie ein hartes, dunkles Richtbeil schwingt tiefe Schwermut, Trauer in der Luft.

Der Gazi! Er war ein einfacher Mann des Volkes, eine Gestalt, wie man sie in der mediterranen Landschaft häufig antrifft. Ohne Pose, im alltäglich bürgerlichen Gewände, ohne Leibwache, einfach, so trat er unter die Seinen. Niemals war er ein Abenteurer, und sein unheroisches Auftreten wollte die Welt vergessen lassen, daß er eben doch ein Held und weiser Staatsmann sei. Sein Schicksal war es, sein Volk frei zu machen und zu beglücken. Er selbst blieb einsam und schwermütig, er liebte es, seine Umgebung heiter zu sehen, selbst jedoch verlor er niemals den ernsten, sinnend suchenden Ausdruck …

Erinnerungen steigen auf…

An den Dardanellen, 1916.

Der Wind trug fernen Kanonendonner über das wogende Meer her zur Küste. Mein einziges Gepäck war mein Homer; ich war damals jung und schwelgte in Begeisterung. Da — eine Detonation aus nächster Nähe! Draußen vor den Dardanellen stand die englische Flotte. Es war leider nicht die rechte Zeit, Verse der Ilias zu lesen.

Ein englisches U-Boot war in Grund geschossen worden. Man hätte einen Mann der Besatzung aus den Wellen gefischt. Man’ trug den noch Halbbetäubten über die Stufen einer Art menschlichen Behausung. Wie Kinder drängten sich türkische Soldaten vor dem Eingang — ein gefangener englischer Kapitän —, den wollten sie gern in der Nähe bestaunen.

Da teilt sich die Schar. Ein jüngerer blasser Offizier schreitet grüßend durch die Menge, springt rasch die Stufen hinauf und beugt sich über den Verletzten. Seine Hand streicht ihm zwei-, dreimal über die Stirn, da öffnet der die Augen. „Verwundet? Nicht schwer, aber ganz erschöpft!“ sagt der Türke englisch. Er schiebt dem Seemann eine Zigarette zwischen die Lippen. Dann wendet er sich seinem Adjutanten zu: „Der ist ja noch ein Kind! Bleiben Sie hier und achten Sie darauf, daß er gepflegt werde!“ Nochmals strich er dem Engländer über Stirn und Haar, dann eilte er durch altes halbzerfallenes Festungswerk den Stellungen der Seinen zu.

Der Engländer erhob den Kopf und fragte die Umstehenden durch Gesten, wer der Mann gewesen sei.

Ohne sich zu besinnen, antworten die Leute: „Mustafa Kemal Pascha!“

Schubertmusik, 192 0.

In einem Sanatorium Wiens erkundigte ich mich nach dem Befinden einer Freundin. Eine geistliche Pflegeschwester führt mich über Gänge, aus einem Zimmer dringen gedämpft wohlbekannte Klänge, der erste Teil von Schuberts „E>er Tod und das Mädchen“ rauscht vorüber.

„Auf Nummer 12 haben wir einen schwer lungenkranken Türken“, sagt die Schwester, „unbeschreiblich, wie der sich nach der Heimat sehnt! Täglich besucht ihn ein Musiker, um ihm Schubert vorzuspielen, es soll das einzige Beruhigungsmittel sein, das ihn ablenkt.“ —

Als ich im Fortgehen wieder vorbeikomme, treten zwei Herren aus dem Schubertzimmer.

„Ich danke Ihnen", sagt eine tenorale Stimme, „für Ihr herrliches Spiel. Durch diese Musik haben Sie mir lange Tage der Krankheit verschönt. Bald werden Sie mich nicht mehr hier antreffen, mein Freund, deshalb lassen Sie mich Ihnen heute nochmals danken!“

„So sind Sie ausgeheilt? Wie mich das freut! Hat der Professor Ihnen erlaubt, bald fortzureisen?“

„Mein Land ruft mich. Nun ist es endlich soweit. Hoffentlich werden Sie mich bald in Anatolien besuchen?“

Der andere lacht. „Das wird zwar kaum je möglich sein, doch möchte ich mir Ihre Adresse notieren, um Ihnen gelegentlich einige Ihrer Lieblingslieder übersenden zu können."

Der andere strafft seine Gestalt: „Mustafä Kemal Pascha, Türkei — das genügt!“

Es ist der Pascha der Dardanellen, nur noch bleicher und hagerer geworden. Seine Heimat ruft ihn.

Es hieß in Zeitungsberichten, die Türkei sei am Zerfallen. Da war es freilich an der Zeit, daß dieser Pascha heimeile.

Izmir, 1922.

Das brennende Izmir ist vom Feinde befreit, an der Spitze seiner Soldaten reitet der Sieger — der „Gazi" — von Volksjubel begrüßt, in die zerstörte, schwelende Stadt ein. Aus einem rauchgeschwärzten Konak eilt ein blutjunges Mädchen auf die Straße, ehe man es daran hindern kann, hat es sich vor dem Reiter niedergeworfen, reißt den Schleier vom Gesicht.

„Nimm meine Jugend, meine Schönheit, meinen Reichtum!“ ruft sie ekstatisch. „Nimm mein Leben, meine Seele! Dein bin ich!“

Sie war stürmisch und frisch wie der Frühlingswind. Er war abgesprungen, aufgeregt drückte sie sich an ihn. Ein Märchen! Er, der 45jährige Krieger, entbrannte lichterloh für die Jugendliche. Sie war gebildet, klug, ihre Familie mächtig und angesehen. Und sie nannte ihn „mein kühner Falke!“ Sie wurde die Gattin des’ersten Präsidenten der türkischen Republik.

Eine glückliche Ehe? Leider nein. Bald mußte der Gazi erkennen, daß die unternehmende junge Dame den kühnen Auftritt nur in Szene gesetzt habe, um eine interessante Rolle zu spielen. Die Ehe wurde bald geschieden, es gab darüber Kopfschütteln, Klatsch und Stürme. Der Pascha war von der erlittenen Enttäuschung nicht schwer getroffen. „Das Leid kommt mir nie durch Blumen oder Frauen“, versicherte er. In späteren Tagen pflegte er zu sagen:

„Drei Fehler habe ich im Leben begangen, die ich ewig bereuen muß. Der erste war, daß ich Ankara zur Hauptstadt gewählt habe — die eisigen Winterstürme des kahlen Hochlandes bringen mir Siechtum und Tod. Der zweite, daß ich, um einiger rebellischen Imame willen, den Islam bekämpft habe. Ein Volk ohne Religion und Glauben verliert auch die Freude an Treue und Liebe zum Vaterland! Mein dritter und dümmster Fehler war, daß ich Hatifee geheiratet habe — sie hat das Ideal der Frau, das ich in mir trug, zertrümmert!“

Die Entschleierten. 1926.

Der Gazi gab sein erstes Ballfest in der neuen Hauptstadt, alle Minister, hohen Offiziere, Botschafter, Würdenträger mit ihren Damen waren eingeladen. Eine fröhliche Wiener Tanzmusik scholl uns entgegen, die Gesellschaft bewegte sich etwas steif im Glanze festlicher Lichter. Man stand in Gruppen umher und erwartete den Gazi. Ein Schwarm junger, anmutiger Damen drängte sich zusammen, blumengleiche Gestalten in seidenen Abendtoiletten aller Farben. Verschwunden war der traditionelle Yaschmak, verpönt der Tschärschaf, nur ein dünner, dunkler Schleier, Gesicht und Haar verhüllend, erinnerte noch an alte Sitten.

Auf ein Zeichen des Dirigenten rauscht die Musik auf, eine Fanfare ertönt, dann wird die Hymne intoniert, der Herr des Festes war erschienen. Inmitten blitzender Uniformen betritt er den Saal, ein schlanker, blasser Mann im Frackanzug. Nun verneigt er sich vor der illustren Gesellschaft, immer wieder grüßend durchschreitet er das Ehrenspalier. Sein Blick streift den Damenflor. Brav, sie alle kamen in modernen Festkleidern, wie er es gewünscht hat — doch was ist das? Noch immer der fatale Schleier! O ihr Masken und Larven!

Rasch geht er auf die tief sich neigende Gruppe zu und fordert eine der Verhüllten zum Tanze auf. Still, mit gesenktem Köpfchen, folgt sie ihm bis zur Saalmitte — alles erwartet, daß der Pascha nun tanzen werde. Er aber sagt sehr laut:

„Meine Damen! Einfache Bäuerinnen unseres Landes haben sich in den Dienst des Vaterlandes gestellt. Als ihre Männer, Väter und Söhne für die Freiheit kämpften, spannten die Weiber ihre Ochsenwagen ein und zogen in den fernen Kaukasus zu den russischen Helfern. Diese beluden ihre Karren mit Kriegsmunition, nun zogen die Frauen wieder zurück. Wissen Sie, was das heißt? Ochsenwagen können in der Stunde nur drei Kilometer zurücklegen, also stellen Sie sich vor, wie die geduldigen Frauen Tag und Nacht über Berge und durch Flüsse fuhren. Ihre Schleier sind dabei zerrissen — dafür hatten sie das Vaterland gerettet! Ich wünsche, daß alle guten Patriotinnen mutig das Beispiel der bäuerlichen Schwestern beherzigen!"

Die Musik begann den Donauwellenwaer zu spielen, schnell ergriff Gazi den Schleier seiner Dame und zerriß ihn. Jubel durchrauschte da den Saal, jeder der Herren bat eine der Masken um den ersten Walzer — ritsch, ratsch — und all die Schleierchen lagen zerrissen auf dem Parkett.

Am nächsten Tage gab es in Ankara nur schleierlose Frauen. In gehobener Stimmung zogen sie, im ungewohnten Sonnenlichte blinzelnd, gaßauf, gaßab durch die Stadt und ließen sich bewundern.

Harun al Raschid in Sivas, 1935.

Es war in der blauen Stadt Sivas, dem Eldorado der Faulenzer. Plötzlich stürmte das Heer der Bettelbuben und Schuhputzer durch die Tscharschi: „Atatürk kommt! Er ist schon in Scharkischlar eingetroffen! Der Gazi kommt!“

Kopfschüttelnd brummte der Apotheker: „Geschwätz! Der hat wichtigere Dinge zu tun, als die Himmelsschule von Sivas zu besuchen!“ Sein Freund, der Mufti, versicherte: „Da müßte ich doch auch etwas davon wissen!“ Großkaufmann Tscheltekli meinte wegwerfend: „Wie kann man solchen Unsinn glauben! Kein Wort ist wahr, Gazi ist in Izmir, um die Ausstellung zu eröffnen!“

Er war aber schon gekommen. Auf dem sternförmigen, sonnigen Platze vor dem Konak des Valy Pascha Statthalters saß er, neben ihn war eine gewöhnliche Schultafel hingestellt. Wie nun plaudernde Müßiggänger nichtsahnend vorüberschlenderten, wurde bald der, bald jener von dem unauffällig sportmäßig gekleideten Manne angerufen:

„He, du, Ahmet oder Mehmet! Schreibe sofort deinen Namen auf diese Tafel!“

Zu jener Zeit hatte Gazi die lateinische Schrift im Lande eingeführt. Ihm zuliebe mühten sich alte wie junge Analphabeten, in das Geheimnis der Schriftzeichen einzudringen. In den entlegensten Dörfern und Gehöften buchstabierten die Leute unverdrossen, mühsam malten sie zittrig plattrige Lettern, meist in falscher Richtung, und verschmierten Stöße von Schreibpapier.

Da stolperte Apotheker Ömer Lutfi über den Platz.

„He, du! Schreibe gleich da deinen Namen auf!“ rief ihn eine helle Stimme an.

Beleidigt und geringschätzig erwiderte Ömer Lutfi: „Jedermann weiß, wer ich bin!“

„Schreibe sofort!“

„Wer bist du, daß du dich unterstehst, mich so anzuherrschen?“

Ein wohlmeinender Rippenstoß eines Mitbürgers brachte ihn aus dem Gleichgewicht. „Halt den Mund! Es ist der Gazi!“

Zerknirscht, Entschuldigungen stammelnd, ergriff der Apotheker die Kreide und malte kunstvoll in mystisch arabischer Schrift von rechts nach links seinen Namen auf.

„Lateinische Schrift! Wir sind moderne Menschen der Neuzeit!"

Da mußte er gestehen, solche Schrift nicht schreiben zu können.

Derb zänkte da Atatürk: „Wenn man dir also das Rezept eines Doktors bringt, kannst du’s nicht lesen! Verabreichst dem armen Kranken wohl gar Fliegengift?! Du wirst die Apotheke sperren oder schleunigst lesen und schreiben lernen!"

Ein Sechsjähriger stand daneben, ergriff die Kreide und schrieb groß und fest an die Tafel: „Der Apotheker ist dumm. Ich möchte Offizier werden.“

Mustafa Kemal nahm ihn bei der Hand. „Wie heißt dein Vater?“

„Vater fiel bei Afyun. Ich bin der Schuhputzer Hüsnü."

Der Knirps kam richtig in die Militärschule Harbie.

Istanbul, November 1938.

Trauerflore verdunkeln den Herbsthimmel. Ein lautloser Zug schiebt sich stumm dem Sultanspalast von Dolma Bagdsche zu. Tagelang defiliert das türkische Volk an der Bahre des großen Toten vorüber. Die Seele Atatürks weilt nicht mehr auf Erden.

Endlos schwankt der Trauerzug durch den Herbstrieselregen. Bauern aus Anatolien, Handwerker, Militär, Würdenträger und Frauen. Langsam ziehen sie durch das hohe Portal, Fadsein lohen düster, überall die Halbmondflagge. Endlich steht man im großen Saale vor dem Katafalk und sucht die Gestalt des Verewigten: einen Kindersarg bedeckt die rote Fahne! Ist es möglich, daß solch übergroße Willenskraft, solch übermenschlicher Schaffensdrang, all die kraftvolle Vaterlands- und Menschenliebe in diesem kleinen Behälter verschlossen ist?

Da ist es, als ob feierliche Trauerharmonien — die letzten Akkorde von Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ — durch den Saal zögen, wie damals, da in Wien vor Kemal Pascha der Tod zurückgewichen war.

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