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Bei den Studenten von St. Mary in Texas

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Im Süden von Texas, runde 200 Kilometer von der mexikanischen Grenze, im flachen, endlosen Land liegt San Antonio; gepflegte amerikanische Provinzstadt, wie tausend andere ihresgleichen. Aber sie zählt — und dies mit vollem Recht — zusammen mit San Franzisko, New Orleans und Boston zu den stärksten Eindrücken des Landes. San Antonio hat in der Tat seinen eigenen Reiz, und das, was man hier besondere Atmosphäre nennt. In mehr als nur einer Beziehung, so, was die äußeren Funktionen anlangt und den äußeren Charakter, die soziale Schichtung und die Denkweise der Menschen, scheint die Stadt etwa mit Graz oder Breslau verwandt zu sein.

Hier wie dort leihen — zumindest dem äußeren Anschein nach — nicht so sehr Produktion als vielmehr Gütervermittlung und Konsum dem im ganzen für amerikanische Begriffe ungemein geruhsamen Stadtbild ihre charakteristischen Akzente. Dazu kommt eine der stärksten Garnisonen des Landes. Nicht ausgedrückt in Kasernen; die sind hier nahezu unbekannt, aber deutlich wahrnehmbar im .Fort Sam Houston“, einem Ubungs-und Ausbildungslager. Aber selbst dies fällt nicht weiter auf, da es mit einem Fort im herkömmlichen europäischen Sinne nicht einmal wahrnehmbare militärische Posten gemein hat.

Mehr noch als die Garnison an sich, mitsamt dem nahe benachbarten Ran-dolph-Field, der größten militärischen Flugplatzanlage der Nation, gibt ein anderes Element San Antonio ein vom früheren Graz her bekanntes Gepräge: es trägt den Charakter einer typischen Pensionistenstadt. Unter den sonstigen bemerkenswerten Eigenheiten des Platzes erfährt der Besucher, daß derzeit rund 60 amerikanische Generale, und was für Texas vielleicht noch mehr bedeutet, eine stattliche Anzahl bekannter Ölmagnaten ihre Ruhetage im dortigen subtropischen und bei aller gelegentlichen Hitze bekömmlichen Klima verbringen.

Mit diesen Spitzen der Gesellschah und mit Ruhegenuß haben die Brüder von St. Mary, die eine der höheren Erziehungsanstalten und sonstige Schulen am Ort leiten, allerdings wenig gemeinsam. Wenngleich sie mit Stolz daran erinnern, daß General Eisenhower in jungen Jahren als Fußballinstruktor an ihrer Saint Mary's University wirkte.

Seit nunmehr bald 100 Jahren führen die Brüder der ursprünglich französischen Ordensgründung (Marianisten) das von ihnen gegründete College mit seinen jetzt über 1200 Studenten. Der Lehrorden war mit unter den ersten, die das ungeheuer weite und reiche Land in ihren Wirkungskreis einbezogen. Missionäre im besten und vollendetsten Sinn dieses Wortes. Beharrliche, durch keinerlei Widerstand entmutigte Arbeiter; völlig selbstlose, hochgebildete und in ihrer Leistung anerkannte Erzieher und Fachleute, alles eher denn blinde Eiferer und Zeloten, berichten sie von ihrem Arbeitsfeld und einem reichen Vorrat von Erfahrung.

Und so ist während einer Unterrichtspause im Empfangsraum des Präsidenten der Universität, die von einem bescheidenen Hügel, etwa 10 Kilometer außerhalb der Stadt, inmitten von Palmen und Immergrün auf das friedliche San Antonio niederschaut, in Kürze das angeregteste Gespräch im Gange. Die Brüder erzählen nicht viel von sich, aber viel von Arbeit und Plänen, Methoden und Zielen, Erfolgen und Krisen. Gewiß, es sei schwer. Und es wird immer schwerer, den ständig wachsenden Anforderungen zu genügen. Aber schließlich, war das Beginnen im Jahre 1852 nicht fast aussichtslos? Und kann man nicht lernen aus einer langen Geschichte?

Und wenn von Geschichte die Rede geht, wird jede Diskussion in Texas — und vor allem in seiner früheren historischen Hauptstadt lebendig. Natürlich, man könne sich nicht mit Europa vergleichen. Aber viel von dem, was drüben in den letzten 500 Jahren passierte, war hier in ein knappes Jahrhundert zusammengedrängt. Nationale Leidenschaft, konfessionelle und konstitutionelle Konflikte, soziale Umschichtung, Ein- und Umwanderung, Folgen der industriellen Revolution; der ewige Kampf gegen das Vorurteil, der Kampf um das Leben... Alle leben sie nur dem Beruf des Erziehers; und daher sind sie mit Leib und Seele Patrioten, stolz auf San Antonios Traditionen. Und dabei ist keiner, der sich nicht mit innerer Verbundenheit seiner Herkunft erinnert, auch wenn er sie oft nur vom Hörensagen im Elternhaus kannte. Der eine steht jetzt noch in Korrespondenz mit .seinen Leuten“ in Mayerhofen im Zillertal, andere stammen vom Elsaß oder aus Bayern. So daß der Direktor der Juristenschule, gleich den anderen Angehörigen seiner besonderen Fakultät dem Laienstande zugehörig, fast als Konzession an ortgebundenes Lokalkolorit wirken könnte, denn er ist von San Antonio gebürtig. Ein Großteil der ursprünglich deutschsprachigen Einwanderung kam nach 1848, aber ein angesehener technischer Experte und Bürger von San Antonio hat zum Beispiel im ersten Weltkrieg noch im Verband der freiwilligen Kärntner Schützen gedient. Niemandem würde es einfallen, an der amerikanischen Loyalität und am ausgeprägten Lokalpatriotismus dieser Männer zu zweifeln.

Am allerwenigsten dem überraschend jungen, aktiven amerikanischen Oberst, der mitten in ihrem Kreise sitzt, und vom gelungenen Handstreich auf die Rheinbrücke von Remagen erzählt in der dramatischen Endphase des Kampfes im Westen; er leitet jetzt die obligate vormilitärische Ausbildung am College. Gleich draußen um die Ecke am Campus arbeiten die Freshmen and Sophomores (1. und 2. Jahrgang) an einer vierstückigen Batterie von hochmodernen Haubitzen.

Wunderliche Welt; es scheint wie ein Schicksal der älteren Schicht, daß sie aus dem Staunen oft nicht mehr herauskommt.

Ob es nicht dennoch Schwierigkeiten der Akklimatisierung und im Konkurrenzkampf gab. Natürlich, und nicht geringe. Wenngleich sie anscheinend niemals die bittere Schärfe und Enge etwa des vormals mitunter üblichen mitteleuropäischen Kampfstils erreichten. Die Brüder von St. Mary haben offensichtlich von Anfang an Toleranz und Fortschritt auf ihre Fahnen geschrieben, und sie taten ebenso offensichtlich gut daran.

Das Prozentverhältnis der Katholiken zu den Protestanten am Ort ist ungefähr 50 zu 50. St. Mary's University (College und Rechtsschule) ist eine private, katholische Lehranstalt, mit obligaten Kursen in Philosophie und christlicher Ethik für alle Hörer; Kurse in Religion sind auf katholische Hörer beschränkt, und Diskussionen über Religion vom restlichen Unterricht grundsätzlich ausgeschlossen. Im Studienjahr 1948 gehörten 41 Prozent der Studenten zu nichtkatholischen Konfessionen, und in der Rechtsschule sind nur etwa 30 Prozent Katholiken.

Etwa zwei Kilometer vom Campus entfernt, hat sich schon seit den sechziger Jahren eine andere private Hochschule etabliert, die Trinity University, im Eigentum und unter der Leitung der presbyterischen Kirchengemeinde. Dort sind dem Vernehmen nach etwa 10 bis 15 Prozent der Hörer Katholiken. Beide Institute — das katholische und das protestantische — arbeiten reibungslos zusammen, genießen das nämliche Ansehen, und dienen im letzten Grunde den nämlichen Zielen. Allerdings können beide hinsichtlich Ausstattung und Ausdehnung mit der State University von Texas in Austin nicht konkurrieren, die mit einer finanziellen Fundierung von 88 Millione i Dollar nach Harvard und Yale zu den reichst dotierten Universitäten der Nation zählt. Es war nie der Ehrgeiz der Brüder von St. Mary, einen Massenbetrieb aufzuziehen; so bleiben sie bei ihrem Durchschnittsstand von 1200 bis 1500 Studenten, konzentrieren sich auf handgearbeitete Bildung, wie sie sagen, und verzichten auf maschinelle Massenproduktion von Graduierten. Aber dies berührt Probleme, die allenthalben im Land existieren.

Die Besonderheit von Texas und San Antonio ist in den Rassengegensätzen der kulturellen Grenzzone begründet, deren möglichste Ausgleichung den Marianisteh vom Anbeginn an am Herzen lag., Hiebei spielt hier das Negerproblem, das zahlenmäßig in anderen Staaten weit augenfälliger in Erscheinung tritt, keine besondere Rolle,- um so mehr dafür die weniger leicht greifbare und delikatere Mexikaner Frage. Eine offizielle Diskriminierung besteht nicht, wohl aber eine faktische Kluft, die zu weitgehender sozialer und sozialökonomischer Absonderung geführt hat. Starke Vermischung mit indianischem Blut macht den Amerikaner mexikanischer Abstammung, auch wenn er sich längst nicht mehr ausschließlich der mexikanischen (spanischen) Sprache bedient, zu einem abgesonderten, nach biologischen Merkmalen leicht erkennbaren Typus. Im übrigen ist in San Antonio sehr viel Spanisch zu hören. Die Kirchen, so zum Beispiel die Kathedrale San Fernando, tragen ausgesprochen lateinamerikanische Züge. Und auch in den rein angelsächsischen Wohnvierteln der Stadt ist der typische spanische „Range“-Stil, ganz ähnlich wie in Kalifornien, reichlich vertreten.

Die Mexikaner sind heutzutage geduldig im Vergleich zu europäischen Minoritäten gemischtsprachiger Bezirke, und die Majorität ist oft nicht minder intolerant — und erfüllt von allerlei Argwohn.

Die Unterschiede im Lebensstandard und in der Wertschätzung technischer Zivilisation, wohl auch im durchschnittlichen Arbeitseinkommen und in den Fortbildungschancen, sind noch so groß, die Vorurteile so stark verwurzelt, der mexikanische Widerstand so verdrängt, daß es wohl noch geraume Zeit dauern wird, bis ein voller Brückenschlag von Mensch zu Mensch gelingt, auf den es ja immer in letzter Linie ankommt.

Dies aber ist das Ziel, dem die Brüder von St. Mary ihre Arbeit seit bald einem Jahrhundert widmen, nachdem manche vor ihnen — wie etwa die spanischen Franziskaner — an ähnlichen Aufgaben nach glänzenden Anfangserfolgen zerbrachen.

Hier nun spricht die lokale Geschichte eine beredte und eindringliche Sprache, die auch dem Europäer interessant ist.

Die historische Entwicklung begann mit den Missionen der Franziskaner vor rund 200 Jahren und lange bevor die amerikanische Kolonisation von Texas ihren Anfang nahm. Die ursprüngliche Landesorganisation sah ihr vornehmliches Ziel in der versuchten Seß-haftmachung indianischer Nomadenstämme. Eindrucksvolle, oft künstlerische Bauten, heute zum Teil als Nationaldenkmäler restauriert und erhalten, zeugen von eindrucksvoller kolonisatorischer Arbeit. Rund um die Kirche in weitem Geviert ziehen sich Wirtschaftsanlagen, Werkstätten, Wohnungen, Schule und Spital, kurz alles, was zur Ansiedlung der“ Indianer dienlich war. Das Ganze war, wenn auch nur den primitiven Anforderungen der Zeit entsprechend, befestigt, um ungestümen Versuchen, von außen her die Siedlerarbeit zu brechen, zu begegnen.

Vereinzelte Palmen im Hof und das brennende Rot der mexikanischen Blumen — Poinsettias genannt —, die heute in den USA als Kirchenschmuck und im privaten Haushalt neben dem Christbaum zur Weihnachtsfeier gehören, und ein bescheidener Friedhof, das ist alles, was neben den Bauten, von rund 100 Jahren angestrengtester Missionsarbeit, übrigblieb. Die Kraft und der Enthusiasmus der spanischen Franziskaner reichten nicht aus, um, praktisch allein gelassen, und ohne jede äußere Hilfe, den Kampf um die Seele des Landes erfolgreich zu bestehen.

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