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Beim Wein ein gutes Buch lesen

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Es gibt Leute, sehr viele sogar, die trinkbare oder gute Flaschen in ihrem Keller haben, aber sie machen nur Gebrauch davon, wenn sie „Besuch“ haben. Sie sind des Glaubens, man trinke eine oder etliche Flaschen Weines am besten in Gesellschaft; und Gesellschaft — das müssen schon mehrere sein. Dann schmeckt es ihnen erst. Bei solchen Gelegenheiten lassen sie die gute Labe unter Umständen „in Strömen“ fließen und trichtern mehr in ihre Gäste hinein, als diese überhaupt zu trinken wünschen. Allein aber . . . —, was für ein' abwegiger Gedanke, sich ein Fläschchen zu Gemiite zu führen!

Man könnte sie für Altruisten halten, und vom Geist her gesehen sind sie das ja auch. Aber was den dritten und eigentlichen Partner angeht, den Wein ... ?

Ich sage nichts dagegen, daß man „in Gesellschaft“ trinke. Warum auch! Aber ich plädiere dafür, daß man einer Flasche Wein die Ehre geben soll, sich auch mit ihr allein zusammen zu setzen, sie also nicht nur als Animiermittel für lahme Temperamente anzusehen, sondern als eine kostbare und besinnliche Gabe, die Erd-und Himmelsgeister in Gemeinsamkeit für uns gewirkt haben.

Sage niemand, man könne sich mit einer guten Flasche nicht unterhalten! Ich beispielsweise kann es stundenlang (sofern die eine dann ausreicht). Eine harmonischere und ausgewogenere Unterhaltung kann ich mir kaum denken, es sei denn, ich hätte noch einen dritten, ebenso vielsagenden Schweiger mit dabei, der letztlich von ganz verwandtem Charakter ist: gesammelt, Erde und Himmel ausatmend, den inneren Menschen streichelnd oder zur Besinnung anhaltend — ich meine das Buch.

Nun hat es auch mit den Leuten im Hinblick auf Bücher seine Bewandtnis, und in gewissem Sinne ähnelt die Situation derjenigen der „Gesellschaftstrinker“. Ein volles Bücherregal oder ein gut besetzter Bücherschrank will noch nicht beweisen, daß sein Besitzer sich allein mit ihnen beschäftigen könne. Zu oft nur stehen die Bücher da mit dem Rücken zum Besitzer, eine gute Fassade seines Kunstverstandes, und werden nur herausgenommen, wenn „Besuch“ kommt, damit der andere sehe: hier fehlt es an nichts. Und wenn die Leute zehnmal eher ins Theater gehen als ein Buch lesen, so verhält sich das doch ähnlich wie mit dem Gesellschaftstrunk. Denn das Stück, das sie sehen, ist ja auch ein „Buch“, nur eines, das man ihnen vorsagt und vorspielt — und sie können dabei „in Gesellschaft“ sein, ihre Robe und Garderobe zeigen und sich zusprechen: Ein gutes Stück (wenn dem so ist)! Wir haben uns gut unterhalten. Zum Wohle . . . Und: wir waren dabei!

Dabei — das heißt nicht unbedingt: bei der Sache. „Bei der Sache“ ist man viel eher, wenn man sich ihr allein stellt. Lind lesen heißt auch nicht, sich in den Schlaf lesen — wie trinken nicht heißt, sich Bettschwere antrinken. Lesen und dabei eine gute Flasche trinken, das heißt, den Dingen auf den Grund sehen, auf den Grund der Welt, den Grund der Flasche. Dies zu tun, das nenne ich einen echten Feierabend, eine glückliche Art, den Abend zu feiern.

Der Name des Weines oder der Titel des Buches sind nicht so wichtig. Sie können trügen. Das Wachstum einerseits und das Verlagssignet anderseits, das gibt schon eine gewisse Vorstellung. Traubenart aber und Name des Autors, die sind schon Bürgschaften. Den verläßlichsten Grund freilich versprechen Weine und Bücher, die durch den Jahrgang ihres Wachstums bzw. ihres Erscheinens glauben machen, daß man sie nicht ohne guten Grund noch nach Jahren auf dem Markte antrifft. Mäßige oder schlechte Weine stößt man rasch und billig ab, aber die besseren lagert man für die Feinschmecker und läßt sie zu Jahren (und Preisen) kommen. Und so geht es auch mit den Büchern: erst wenn sie gut sind und über den (oft künstlich provozierten) Anfangserfolg hinaus leben, zu Jahren und Auflagen kommen, dann kann man ganz sicher sein, daß sie uns nicht enttäuschen.

Haben wir aber ein gutes Paar beieinander — eine gute Flasche, ein gutes Buch —, so ist die Harmonie der Welt und mit ihr die unsere, die vielleicht tagsüber unleidlich gestört schien, plötzlich wieder hergestellt. Wir sitzen zwar still an einem Fleck; aber im Geiste wachsen Flügel. Denn Geist des Weines, das heißt Heiterkeit, Behagen, Gelöstheit, Phantasie. Und dieser Geist legt sich wie ein günstiger Wind in das Segel unseres Geistes. Wir heben uns auf und sind aufgehoben — im doppelten Sinn des Wortes: wir erheben uns über uns hinaus, und wir sind wohl aufgehoben, das heißt: wir kommen zur Ruhe, zur Uebereinstimmung mit uns selbst. Das Leben entdeckt uns seine Poesie und die Poesie (in der wir lesen) ihr Leben. Ein Akt der Befreiung geschieht, der den Charakter einer Verzauberung hat.

Während des Krieges saß“ ich eines Sonntags verloren in meinem Pariser Hotel. Es war an sich kein Wetter, das Draußen zu meiden; aber ich wußte, daß Hunderttausende unterwegs sein würden. Ich entsann mich, daß ich tags zuvor in einer Frontbuchhandlung „Das Jahr der schönen Täuschungen“ erstanden hatte, und beschloß, einen Lesetag zu halten. Ich erstand mir eine Flasche weißen Bordeaux und trank und las. Ich las das ganze Buch in einem Zug, diese Geschichte einer versunkenen Münchener Zeit mit Personen und Gestalten, die längst tot waren. Lind sie alle, Stadt und Menschen, lebten wieder auf. Alles atmete, hatte Farbe, war zu sehen und zu fühlen. Ich las und trank, trank und las. Ich wurde aufgehoben, und ich war aufgehoben. Es gab kein Paris, keinen Krieg mehr.

Vielleicht habe ich von dieser Art zu lesen eine Voreingenommenheit für dieses Buch seitdem — ich frage nicht darnach. Sind nicht die meisten unserer Begeisterungen irgendwo voreingenommen? Erst diese Voreingenommenheit erlaubt uns ja — wie dem guten Photographen —, den Gegenstand im besten Lichte zu sehen. Ich weiß nur: von den vielen hundert Sonntagen des Krieges ist mir dieser unauslöschlich im Gedächtnis geblieben.

Beim Weine ein gutes Buch zu lesen, das gehört für mich zu den wenigen stillen Genüssen, die unsere ganze Natur befriedigen und erfreuen, den Geist, die Seele und das Zünglein an der Waage unseres Leibes: die Zunge.

Ich glaube sogar, daß ein so beflügelter Leser etwas lesen und genießen kann, was wenige zu lesen und zu genießen verstehen: Gedichte.

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