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Bergdorf der Seltsamkeiten

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Eine Fundgrube merkwürdiger Dinge ist das uralte S e r f a u s, das im Herzen einer unserer stillsten Berggruppen, dem Samnaun, hoch über der Sohle des Tiroler Oberinntales liegt. Schon die Lage des Ortes ist nicht alltäglich, wenn auch gerade in dieser Gegend noch einige andere Siedlungen eine ähnliche Hochlage aufweisen können. Fährt man von Landeck durch das teilweise schluchtartige Oberinn-tal nach Süden, so würde man gar nicht auf den Gedanken kommen, daß außer den im Tal selbst gelegenen Dörfern und Märkten noch rund 800 Meter höher eine ganze Reihe Siedlungen zu finden sei. Und nur der Eingeweihte kennt den Aufstieg aus der Enge des Inntales zu den sonnigen Weiten dieser Hochsiedlungen, bei denen Kulturfläche, Almgebiet und Gipfelregion unmerklich ineinander übergehen. In Ried etwa verläßt man die Hauptstraße, erreicht zwischen uralten Häusern den Inn, um jenseits desselben auf einem kurvenreichen Fahrweg durch lichte Wälder emporzusteigen. Die Talsohle verschwindet allmählich, dafür wird der Blick auf die nahe Bergwelt umfassender. Und ganz plötzlich tauchen ein paar verwitterte Schindeldächer auf, die erste der hochgelegenen Siedlungen, aber noch nicht unser Ziel. Ohne weitere Steigung gehen wir den Hintergrund einer kleinen Schlucht aus, entdecken bald darauf zwischen lichten Lärchen eine Feldkapelle und sehen endlich hinter einem kleinen Vorsprung Serfaus liegen.

„Hier hat die Welt ein End' “, das ist der erste Eindruck, den der Ort auf den Besucher macht. Das ist wirklich abseitig, hier herauf dringt kein Lärm aus Tales Tiefen, keine mißtönende Autohupe zerreißt alle Augenblicke unharmonisch die Stille der Bergwelt. Und uralt muß die Siedlung sein, das ist der zweite Gedanke, wenn man den Blick über die aneinandergereihten Dächer gleiten läßt. Schwarz vor Alter sind die hölzernen Schindeln, schwarz vor Alter sind auch die klobigen Balkenwände der Häuser. Tatsächlich gehen die ersten Anfänge der Siedlung bis in römische Zeiten, wenn nicht noch weiter zurück. Denn schon die Römer hatten über diese Hochflächen, die als Reste der Talsohle des Ur-Inn anzusehen sind, eine Straße gebaut, die sich heute noch streckenweise verfolgen läßt. Lage und Alter sind also die ersten Besonderheiten unseres Bergdorfes, die wir allerdings auch bei den Nachbarorten finden können. Aber ein Gang durch die winkligen und buckligen Gassen, ein Streifzug durch die engere und weitere Umgebung lassen uns noch mehr Seltsamkeiten entdecken, die man wohl kaum ein zweites Mal auf einer Stelle vereinigt finden wird.

Schon beim Wahrzeichen des Dorfes, der Kirche, fällt uns auf, daß der Glockenturm in südlich-romanischer Art für sich in einem Eck des wildüberwucherten Friedhofes steht, während die beiden Kirchenschiffe ebenfalls jedes für sich in der Mitte des Gottesackers ihren Platz gefunden haben.

Dann wandern wir ins Dorf und hier fällt uns das nächste Kuriosum auf: jedes Haus hat nämlich ein.*n „Bauch“. Ganz gleich, ob ein Haus Holzwände oder Steinmauern hat, aus jedem rage ein steinerner, halbkugelartig geschlossener Vorbau heraus, der dem Ganzen ein pittoreskes Aussehen verleiht. Das ist aber nichts anderes als der Backofen, der jedem Hause angebaut worden ist und so leicht von innen her bedient werden kann Diese Bauweise hat ihren guten Grund. Mangel an Bauflächen hat die Häuser dicht zusammengedrängt. Da blieb für Nebenbauten, wie Waschküche, Backofen und andere, die man in Tirol sonst etwas entfernt vom Hause findet, kein Platz und die Bewor.ner halfen sich auf diese einfache Art und Weise.

Die nächste Besonderheit in Serfaus führt uns an den Ortsrand, dorthin, wo in tief eingeschnittenen Rinnen di' Bäche aus dem Berggebiet, um den Furgler herabfließen. Hier entdecken wir eine ganze Anzahl Erdpyramiden. Das wäre an sich keine Seltenheit, die Erdpyramiden am Ritten bei Bozen sind längst weltberühmte Sehenswürdigkeiten geworden, sie sind in jedem Lehrbuch der Geographie abgebildet. Aber die Pyramiden von Serfaus stellen trotzdem etwas Eigenes vor. Erstens bestehen sie nicht wie die ßozner Gebilde aus einem ziemlich weichen, erdigen Material, welches auch bei trockenem Wetter leicht abbröckelt, sondern aus einem steinhart zusammengebackenen breccicnartigcn Grus, in dem man mit der genagelten Sohle des Bergschuhs kaum Tritt h-,sen kann. Und noch ein zweiter grundlegender Unterschied besteht gegenübet den Südtiroler Erdpyramiden. Bei diesen ist das schützende Dach, welches überhaupt erst die Pyramidenbildung ermöglicht, ein Stein, in * Serfaus schützt ein Stück Rasen oder eine Baumwurzel die Pyramidenspitze vor zerstörenden Einflüssen. Gleich drohenden Polypenarmen hängen da oft lange Wurzeläste von der Spitze einet Pyramide herab und vertiefen so den Eindruck einer einmaligen Naturerscheinung.

In der Pflanzenwelt der weiteren Umgebung von Sertaus stoßen wir auf ein anderes Kurioium. Bei einer kleinen Waldwanderung finden wir überall Fichten, die durchweg Zwieselerseheinungen aufweisen. Unter Zwieselung versteht man einen Wachstumsvorgang, bei welchem der Baum an Stelle von Ästen neue Stämme treibt, die nach kurzer, fast wäagrechter Abzweigung parallel zum Hauptstamm in die Höhe wachsen. Besonders ein Baum im Bergwald von Serfaus, als „Wundertanne“ bezeichnet, obwohl er eine Fichte ist, treibt es in dieser Hinsicht arg. Kann man doch hier nicht weniger als 64 Nebenstämme zählen, eine Zahl, die sicher noch zn niedrig ist, da sich auch in den oberen, nicht sichtbaren Regionen weitere kleine Zwieselungen gebildet haben.

Und nun das letzte der Naturwunder um Serfaus. Da gibt es in dem prächtigen Bergkessel rund um das Bergdorf zahlreiche kleinere und größere Hochseen, die noch keinen — Namen haben! Ja, so etwas gibt es in unserer verstandesgesegneten Zeit, in der die Menschen nur dann glücklich sind, wenn sie jedem Ding einen Namen geben können, als ob es nicht genügte, daß ein Geschenk der Natur nur schön ist und uns stilles Beglücktsein gibt, womit ein Name gar nichts zw tun hat. Fast alle Seen von Serfaus haben die gleiche Dreiecksform, manche lassen eine große, vielleicht unergründliche Tiefe vermuten, unterirdische Zu- und Abflüsse dürften auch vorhanden sein Kein Weg führt za diesen Hochseen, in deren klarem Wasser sich die Felsblöcke des Ufers ebenso spiegeln wie nahe und ferne Berggruppen, über denen still und unmerklich silberne Wolkenschiffe ihre Bahn unter südlich blauem Himmel ziehen.

Das ist Serfaus, das Bergdorf der Naturwunder und Kultureigenheiten, das in seiner Bergwelt noch viel einzigartige Schönheit birgt, so daß sich von selbst die Frage erhebt, ob nicht dieses ganze Gebiet unter Naturschutz gestelb werden sollte, um es in seiner fast einmaligen Ursprünglichkeit zu erhalten, ehe Geschäftstüchtigkeit und Spekulation oder falsch verstandener Nutzungsdrang den Lärm des Alltages und Geldmachen? auch hier herauftragen. Nur so kann eine einzigartige Bergwelt voller Wunder, kann auch die darin gelegene Siedlung, die ebenfalls Schutz genießen müßte, als urtümliches Naturparadies erhalten bleiben.

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