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Berlin und Wien

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Ich war vor den Ereignissen des März 1938 wieder in meinen oberbayrischen Unterschlupf zurückgekehrt, wo ich in einem einsam gelegenen Weiler, mehr als eine Stunde Fußweg von der nächsten Lokalbahn entfernt, mein Leben mit dem der einfachen Bauern teilte, die mich in ihrem Hof aufgenommen hatten. In Graz ließ ich ein Dutzend Monate glücklichen Vagantenrums zurück — denn es war eine glückliche Zeit, gemessen an der, die kommen würde — und gute Freunde, unter denen Professor Victor von Geramb, ein steirischer Rübezahl als Erscheinung, ein tröstender Koloß an gütigem Humor und wissenschaftlicher Ausdruckskraft, sich mir in vielen Begegnungen bis zu seinem Tode unauslöschlich eingeprägt hat. Geramb las an der Universität und war der Begründer und Leiter des Grazer Volkskundemuseums in der Paulustorgasse am Schloßberg, das zu den besten Heimatsammlungen der Alpenländer zählt. Mit München verband ihn seine Verehrung für Wilhelm Heinrich Riehl, der im vergangenen Jahrhundert der Volkskunde die wissenschaftlichen Grundlagen gelegt hat und der erste Direktor des bayrischen Nationalmuseums gewesen ist.

Zwischen Schuschniggs erschütternder Abschiedsrede mit den verlorenen Schlußworten „Gott schütze Österreich“ und dem Beginn des zweiten Weltkrieges lagen kaum eineinhalb Jahre - so kurz war der vom letzten Bundeskanzler der Ersten Republik vorausgesehene Weg in die Katastrophe, den zu versperren er sich verzweifelt bemüht hatte. Das Schicksal nahm seinen Lauf, und keiner weiß, ob er beendet ist. Die menschliche Natur, wankelmütig, vergeßlich und immer geneigt, das Kommende für besser ab das Seiende zu halten, läßt sich wieder von Kriegsgedanken berühren; noch schmeichlerisch und werbend, aber täglich zudringlicher, tun sie allmählich ihr verwirrendes Werk. Werden sie von denen, die sie jetzt hervorlocken, im entscheidenden Augenblick gebändigt werden können? Berlin — und davon spreche ich - ist aus einem Verhandlungsfall zum Prestigefall, aus einem Prestigefall zum Symbol, aus einem Symbol zum Mythos geworden. Mythos aber trägt Unheil in sich.

Noch verdunkeln die Gewitterwolken, die es bergen, den Horizont, noch strahlt aus dem europäischen Himmel die Sonne des Wohlstands, vergoldet den Lebensstandard und erhitzt die Konjunktur. Österreich ist aus einem ausgezehrten zu einem aufblühenden Land geworden, und Wien hat seine leuchtende Schönheit wiedergewonnen, ja, mehr als das, es hat eine gewisse moderne Heiterkeit dem Glanz einer historischen Fassade hinzugefügt. Frei von der Verantwortung für ein vielstimmig brodelndes, in die Weite wirkendes Reich, das durch die Jahrhunderte zu vergrößern, zu verteidigen, zusammenzuhalten Wien zu einem großartigen, aber der Staatsmacht mehr als dem Leben der Bürger verpflichteten Stil genötigt hatte, versucht es, neue Qualitäten zu entfalten, kommunale und internationale, um sich in der Gegenwart zu behaupten und zu empfehlen. Es ist, geschmeidig und beschwingt, im Begriff, die Chancen zu ergreifen, welche die politische Realität bietet, un . sich der Welt so angenehm zu machen, wie es die Umstände nur irgend erlauben, Chancen, die man Berlin wünschen würde, bestünde nur eine geringe sehen Bemerkungen als die eines Bayern, dessen Heimatland die früheste Schuld an Hitlers verderblichem Aufstieg zu tragen hat, besonderer Legitimation bedürfen — aber das tragische Phänomen, daß ein so großer Teil des Volkes damals den Verlust seiner Freiheit und die Einverleibung ins Dritte Reich bejubelt statt beklagt hat, daß es selbst den Altar schmückte, auf dem sein Name und seine Geschichte geopfert wurden, daß es seine besten Traditionen verleugnete und sich blindlings der heraufgekommenen Unkultur hingab: die Betroffenheit darüber, die auch heute noch unvergessen ist, läßt ein verschönerndes Schweigen nicht zu. Es ist um so weniger am Platz, als Österreich seitdem eine Wandlung durchgemacht hat, die, wie mir scheint, heilskräftiger war als die deutsche, hinter der sich immer noch Krankheitsherde verbergen können, ohne daß sie energisch genug behandelt werden.

Aussicht, daß es sie annimmt. Eine Weltstadt bedarf gewisser Voraussetzungen, um zu leben; keine davon, wie immer man sie definiert, ist in Berlin noch hinreichend vorhanden. Ein Anhängsel der Bundesrepublik zu sein, genügt nicht; nur die Schaffung einer eigenen, selbständigen Position und Aufgabe kann ihren allmählichen Verfall aufhalten. Solange alle Anregungen solcher Art, selbst die sehr vorsichtigen amerikanischen, auf uneinsichtige Ablehnung stoßen, kann sich nichts zum Besseren wenden. Ich weiß, daß dieses Bessere kein Risiko hat, aber ich sehe nicht, wieso es größer sein sollte als das jetzt bestehende.

In diesem Zusammenhang ließe sich einiges bemerken über die tieferen Gründe, aus denen Wien im Gegensatz zu Berlin zu einem modus vivendi mit den Russen hat finden können. Bei aller Verschiedenheit der politischen Situation, in die der Ausgang des Krieges die beiden Städte gestellt hat und die natürlich einen allzu simplen Vergleich ihres Verhaltens nicht zulassen, muß doch im österreichischen Fall die politische Fingerfertigkeit notiert werden und liebenswürdige Vermittlungskunst, die den Gegner zu entwaffnen vermag, auch die glückliche Gabe, nichts so ernst zu nehmen, wie es ist, und einem Druck eher auszuweichen als durch Unbeugsamkeit zu widerstehen. Mag sein, daß der slawische, ungarische, romanische und jüdische Bluteinfluß, der das Wiener Volk im Laufe der Generationen zu einer graziöseren, ver-schwärmteren, weltgewandteren Abart des Süddeutschen verselbständigt hat, mag sein, daß dieses Gemisch mit seinem Schuß Sentimentalität der russischen Wesensart eher zugänglich ist — der russischen, sage ich, die keineswegs identisch mit der kommunistischen sein muß —, mag sein, daß die gerissene Gemütlichkeit mancher österreichischer Politiker von den Sowjets honoriert wurde (da ja beide Eigenschaften ihrem eigenen Volk nicht fremd sind): kurz, der gegenseitige Zugang wurde nie verschüttet, und das nicht zum Nachteil des Westens, dem sich Wien, worüber kein Zweifel herrschen darf, nicht minder zugehörig empfindet als Berlin.

In der Politik — und gerade in der Politik — ist vieles eine Frage des Temperaments, vieles eine Frage des Stils. Je schärfer die sachlichen und weltanschaulichen Gegensätze sind, um so größere Bedeutung gewinnen Methode und Manier, sie zu behandeln. Gegenüber einem Partner wie Chruschtschow können sie geradezu entscheidend werden; Bundeskanzler Raab gab hierfür während seiner Regierungszeit ein typisches Beispiel und vielleicht sogar ein bleibendes, wenn ich mich auf den Eindruck beziehen darf, den die letzte Begegnung zwischen den beiden in Schönbrunn hinterlassen hat, auf dem Empfang, den die österreichischen Hausherren anläßlich des Treffens Kennedy-Chruschtschow in Wien veranstaltet haben. Die verhaltene Hoffnung freilich, die die Welt an dieses Treffen geknüpft tausendjährigen Kulturbodens, auf dem die Süße des Nichtstuns so leicht gedeiht wie die Süße des Lasters. Doch prägt jede Weltstadt eigene Formen der Dekadenz und eigene Energien für die Zukunft; mitunter vereinigen sich beide wie im Wien Nestroys und Raimunds. Dem heutigen Kabarett, soweit es an die Stelle des Volkstheaters getreten ist, fehlt hierzu nicht die literarische, wohl aber die menschliche Güte; seine zwar mitunter makabre, indes höchst geistreiche Wiener Originalität steht allerdings außer Zweifel, wie denn Wien überhaupt sich als eine Summe originaler Einzelwerte darstellt Noch immer, Gott sei Dank, weit entfernt vom amerikanisch wachsenden Einheitscharakter, ist dort nichts so, wie es anderswo ist, und auch auf eine andere Art verankert in den Lebensgewohnheiten und Wertmaßstäben der Bewohner. Die Kunst, Wiener zu sein, setzt für den Fremden das Talent, Wiener zu werden, voraus — ein seltenes Talent, widerspruchsvoll und vielfarbig. Selbst die untersten Prüfungen, etwa der Auftritt im Kaffeehaus, sind nicht leicht zu bestehen, und eher wird der Christ in Mekka für einen Mohammedaner gelten als der Ausländer bei Demel für einen Wiener. Höhere Examina: ein Gespräch mit dem Zahlkellner über die letzte Opernpremiere, eine Diskussion mit Torberg über Doderer, mit Weigel über Torberg, mit Kreisky über Südtirol — derlei Vermessenheiten entlarven den zugereisten Adepten schnell als einen unglücklichen Liebhaber, als einen Amateurösterreicher, während er doch, ungeachtet seiner Herkunft, wenigstens die Weihen der Mitwisserschaft errungen haben möchte.

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