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Besuch bei Albert Schweitzer

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Man hatte mich gewarnt. Albert Schweitzer sitze wie eine Schnecke in seinem Günsbacher Haus und lasse kaum jemanden zu sich. Trotzdem mußte ich es auf diesen Versuch ankommen lassen. Ich will nicht viele Worte über die Reise verlieren, sie ging mit einem braven Citroen vonstatten. Dem wurde einiges zugemutet, aber ich erreichte mein Ziel.

Im herbstlichen Münsterthal in den Vogesen liegt die kleine Ortschaft Günsbach. Man muß sie etwas abseits von der großen Verkehrsstraße suchen. Noch vor wenigen Jahren trugen hier die Männer ihren Zweispitz, den langen braunen Rock, die kurzen grauen Kniehosen und schöngearbeitete Schnallenschuhe. Und heute? Die mißtrauischen Blicke, mit denen sie meinen ver- - staubten Wagen musterten, legen ein deutliches Zeugnis von dem vielleicht verständlichen Wunsch ab, noch möglichst lange in der bisher ungestörten Abgeschiedenheit des Tales leben zu dürfen.

Rebenhügel, Rasenteppiche und schattig breite Nußbäume geben der Landschaft einen verträumten Charakter, aber die tannenbewehrten Berge sprechen das Wesentliche deutlicher aus. „Die kleine Schweiz der Vogesen“ nennt ein Wanderführer diesen Flecken Erde, und so wechseln sich die Landschaftsbilder in einer fast regelmäßigen Reihenfolge ab. Die Mischung von Süß und Herb trifft auch auf die Menschen zu, die hier wohnen. Das oft vom Sturmgewitter der Zeit umbrandete Grenzlandleben hat ihrer Sprache und ihrem Gesicht eine gewisse Verbindlichkeit verliehen.

Das kleine Haus, unweit der Kirche, in dem heute Dr. Schweitzer seine Europatage verbringt, erschien mir wie ein breites, verschmitztes Gesicht. Da und dort liefen rote Aederchen durch das gefurchte Gesicht, und die blitzblanken Augen, offensichtlich der ganze Stolz einer gründlichen Hausfrau, funkelten mir entgegen. Der alte Bau mochte sich als geheimer Regisseur der zahlreichen, und oft vergeblichen Fahrten empfinden, die alle hier ihr Ende finden.

„Der größte Mensch unseres Jahrhunderts", so benannte die amerikanische Presse den Urwald-

doktor, Philosophen, Theologen, Musiker und Nobelpreisträger. Dieser Superlativ wirkte sich natürlich auf mich ganz besonders in dem Augenblick aus, als die Notwendigkeit bestand, die Hausglocke zu ziehen. Wie viele Fragen doch in einem einzigen Augenblick auf einen Menschen einstürmen können. — Wird mich der Doktor empfangen, wird er sich sprechen lassen? Ist er nicht zu müde von all den Gesprächen der letzten 60 Jahre? Solche und ähnliche Probleme hatte ich zu entscheiden, ehe der Reporter in mir siegte und ich mit einem kurzen, energischen Ruck die Glocke zog. Es war eine schöne Glocke, die an einer doppelten Kette hängend, eine aus Eisen geformte Eins und Zwei darstellte. Hausnummer zwölf. Ein netter Einfall. Oder ein Symbol?

Ehe ich noch überlegen konnte, öffnete sich die Haustüre und eine Frauenstimme bat mich, nach oben zu kommen. Es war ein steiler Weg, und fast jede einzelne Stufe war von einem Bild begleitet, das ernst von der Treppeffwand auf mich herabblickte. Dann trat ich in ein weites Zimmer. An den Wänden fast nur Bücher, dazwischen zweimal Johann Sebastian Bach und eine Anzahl von Photos. Alle zeigten sie einen älteren Herrn mit Tropenhelm. In einer Ecke lag ein großer Haufen frischer, aber noch un- gebügelter Wäsche. Aber auch hier hatte ich nicht lange Zeit Betrachtungen anzustellen; eine nette, ältere Dame unterbrach die Linie meiner neugierigen Blicke.

„Ich bin Frau Martin“, sagte sie mir. Dann versuchte sie mir klarzumachen, wie unmöglich es sei, den Doktor ohne vorherige schriftliche Anmeldung zu besuchen. „Doktor Schweitzer ist müde — und es wartet noch so viel Arbeit auf ihn!“

Das war deutlich. Sollte der ganze Versuch umsonst gewesen sein? Die weite Fahrt? Endlich gelang es mir, die treue Wächterin umzustimmen. „Also kommen Sie, ich werde versuchen, Sie anzumelden.“ — In der Türe, die wieder zu einer steilen Treppe führte, sagte sie beschwörend: „Aber nur 15 Minuten bitte!“ Ihr Blick war dabei mütterlich verzweifelt. Insgeheim mußte ich mir schon eingestehen, daß Reporter oft sehr unausstehlich wirken müssen.

Wer Albert Schweitzer noch nie persönlich begegnet ist, wird verblüfft, wie wenig er der allgemeinen Vorstellung von einem großen Arzt und Gelehrten gleicht. Nichts von einer überragenden Gestalt, nichts von einem Fluidum. Der Film des wahren Lebens geht andere Wege und narrt uns in unseren primitivsten Vorstellungen.

Hier trat in einem kleinen, hellen Zimmer dem Betrachter ein Bild der Arbeit entgegen. Hinter einem Tisch, an einem Notenblatt-schreibend, sitzt Albert Schweitzer, aber ich kann sein Gesicht nur schlecht erkennen, weil es sich im Schein der Schattenspiele tief über das Blatt gebeugt hat. Nur ab und zu trifft der volle Licht1 schein Kopf und Gestalt. Das Fenster ist halb offen, und draußen pfeift eine Amsel ihren Lockruf von dem Ast eines Nußbaumes. In der Nähe des Fensters stehen drei ganz einfache Stühle und an den Wänden sehe ich wieder Bücher und nochmals Bücher. Dazwischen liegen Stöße von Notenpapier.

Lange und bange Minuten vergehen. Hier ist alles so schlicht und einfach. An der Wandseite steht ein Feldbett mit einer blauen Decke. Die Schlafstätte des Forschers. So und ähnlich muß es auch in seinem afrikanischen Spital sein. Alles einfach und zweckmäßig. Nichts von einer verlogenen Arroganz. Wie gebannt sehe ich der alten Hand zu, die auf ein frisches Blatt Note um Note überträgt. Eigenartig ist, daß nicht einmal das Ticken einer Uhr die Stille unterbricht, die in diesem Augenblick das Atmen zweier Menschen unterstreicht.

Endlich wird das Schreibzeug weggelegt. Die alte Hand kommt auf mich zu und zwei aufmerksame Augen, überschattet von den spärlichen Wimpern des Alters, betrachten mich prüfend. Es sind wissende Augen, die ab und zu tn einem nervösen Aufzucken von dichten, buschigen Brauen verdeckt werden. Die hohe Stirn und die braungegerbten Wangen werden von einem haarfeinen Netz unzähliger Fältelten durchzogen.

So plötzlich wie das Schweigen gekommen war, so plötzlich wird es durchbrochen.

„Bitte rücken Sie Ihren Stuhl ganz nahe an den meinen heran, ich möchte nicht laut sprechen. Und entschuldigen Sie, wenn ich Sie etwas lange warten ließ."

Wir kommen auf Afrika zu sprechen. Der Erdteil, den Albert Schweitzer wie kein anderer kennt und der im Augenblick in der großen internationalen Politik eine exponierte Stelle einnimmt. Das Problem der Mau-Mau und der afrikanischen Geheimbünde wird wach, und langsam schließt sich der Kreis. Länder, Gebiete und Stämme werden betrachtet, aufgegliedert und einer Untersuchung unterzogen. Der weiße, weise Mann ist. an der Arbeit. Einmal werfe ich die Worte ein: „Wir müssen Afrika so objektiv wie möglich betrachten!“, und wie ein heller Blitz fuhr die vital gegebene Antwort in den Raum. „Das geht nicht! — Vergessen wir nie, daß der Schwarze keine eigene, oder sagen wir besser keine europäische Initiative besitzt. Wenn ich in meinen vierzig Jahren Buschleben vielleicht sagen darf, daß ich zwölf Negern das produktive Arbeiten beigebracht habe, dann kann ich getrost heimgehen und zufrieden sein. Glauben Sie mir, es ist wirklich nicht schön, wenn man sehen muß, -wie sich während der Regenzeit das Wasser durch die Bambushütten der I ••’ra- kranken schlängelt. — Mein Nobelpreis ist nun in Wellblech angelegt!“

Die Welt der guten Geister ist ausgestorben. Die nackte Wirklichkeit hält uns in ihrem Bann. Der Mensch, der einmal die Maschine erfand und sie zu seinem Sklaven machte, ist heute ein Sklave der Maschine. Immer schneller wird der Tanz der Menschen um das goldene Kalb. Die goldene Pest hat ganze Kontinente überfallen. Die Gefahr ist Wirklichkeit und keine bloße rhetorische Figur. Um sie auszuschalten, muß man sie beim Namen nennen. Aber die Mutigen werden immer weniger, und die Ueberfälle des Bösen nehmen zu.

Fast scheint es rätselhaft, woher dieser grundgütige Mensch Albert Schweitzer ein ganzes langes, schweres Leben hindurch die Kraft genommen hat, um all dem Bösen zu widerstehen und darüber hinaus dem Bösen auf den Fersen zu bleiben. Schon der Vater Albert Schweitzers war pls Geistlicher mit Rat und Tat zur Stelle, wo immer seine kleine Gemeinde in Günsbach und Kaysersberg in Not war. Seine Predigten nahm er aus dem Leben „Ich bin :m Grund ein Laie", pflegte er zu sagen, „aber der da —und damit zeigte er auf ein Christusbild, „der war auch ein Laie und kein kluger Theologe." — Albert Schweitzer ist ein guter Sohn seines Vaters ..

Von einer kleinen Handbewegung begleitet, sagte er: „Bitte erzählen Sie von sich. Es ist.so wichtig, wenn man um andere Menschen weiß.“

— Und so mußte ich von mir erzählen, und wollte es doch gar nicht. Ich fühlte mich als Eindringling in diesen Räumen, und diese Tatsache hemmte auch meine Erzählung. Schweitzer hatte seine Augen geschlossen, und fast war man versucht, vor seinem Gesicht Afrika und den erbarmungslosen Kampf der Kreaturen zu sehen. Einen Kampf, bei dem der große Arzt und Musiker — vielleicht ist Albert Schweitzer einer der bedeutendsten Bach-Forscher der Gegenwart — seinen ganzen Mann und seinen ganzen Menschen stellte.

Mitten in das Gespräch hinein trat Frau Martin, die lebende Uhr dieses Hauses. Aber. Schweitzer winkte ab: „Ich möchte noch ein wenig plaudern, wenn mich auch jede Viertelstunde der nicht eingehaltenen Tagesarbeit um die doppelte Zeit meiner Nachtruhe bringt.“ Wieder sprechen wir über Afrika. In den zahlreichen Schriften und Manuskripten ist eine ganze Welt eingefangen. Beobachtungen, Untersuchungen — und Ergebnisse. Ob jene Schrift von Mohammed Amin el Husseini auch darunter ist, der sagte: „Die Völker Afrikas sind den Grashalmen ähnlich. Man kann sie ausbrennen, aber sie kommen immer wieder. Gegen Gott gibt es kein Gebot!“

ln Nordafrika und Aegypten wurde das Gift im Leibe des schwarzen Kontinents wirksam, und Albert Schweitzer sitzt mitten im Urwald in seiner Krankenklause, fern dem Betrieb der politischen Eifersüchteleien und Intrigen, ein Europäer der alten Schule — und erlebt die Auswirkungen. Fast könnte man sagen, er registriert sie. Sein Leben und Wissen sind ein düsteres Dokument dessen, was. in der Welt zerbrochen ist und noch zerbrechen wird.

Vor dem kleinen Fenster wird es’ langsam dunkel. Wieder ist es die Frau des Hauses, die diesmal mit etwas energischen Schritten in das Zimmer tritt. Auch Albert Schweitzer hat sich erhoben, und ich bin ehrlich überrascht als er sagt: „Ich will Sie noch ein Stück begleiten.“ — Wie selbstverständlich nimmt er seinen Hut, tauscht seine weiße Drillichjacke mit einem schwarzen Rock und geht mit mir vor die Türe.

Wir gehen dem Westen zu. „Man sagt schon“, die Stimme meines Begleiters ist ganz nahe, „ich würde bereits das geöffnete Grab sehen, aber noch ist es nicht so. Noch ist meine Arbeit nicht vollbracht. Das Leben benötigt mich noch. Wir sind verpflichtet, unsere Arbeit in die richtigen Hände zu legen, und niemand kann uns diese Verantwortung abnehmen.“

Nach dem Abschied geht er langsam zu dem kleinen Haus zurück. Wie ein Schatten hebt sich seine Gestalt gegen den niederglühenden Himmel ab. Ein schmaler, kleiner Schatten. Vorstellung und Wirklichkeit zugleich. Ein Schatten, der auf seinen schmalen Schultern das Gleichgewicht der Erde trägt

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