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Besuch in AAarkacka

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Es ist weitgestrecktes Bauernland, das ich von der regennassen Landstraße aus überblicke. An einer Wegkreuzung von Oestra Emtervik, des Kirchenspiels, zu dem Selma Lagerlöfs Haus gehört, gibt es zwar ein Geschäft, das die Aufschrift „Konsum“ trägt, aber der Bach, der zwischen hohem Schierling dahineilt, der Stallgeruch, der herweht, das ständige Krähen eines Hahnes führen mich schnell wieder in das värmländische Dorf zurück. Drüben, jenseits der breiten Ackersenke und ihren regenschwarzen Heumandeln, stehen niedrige Höhen mit Nadelwald. Es ist schon das Lagerlöfsche Familiengut, dem ich mich nähere: ernst und herbe und dunkel wie eine Moorgegend liegt es da. Nach wenigen Minuten Fußwanderung offenbart sich ein von Autos dicht besetzter Platz, und als ich hier einbiege und gegen den Park mit den hohen Wipfeln zugehe, der, von einem Dach überragt, das Gebiet des Herrenhofes anzeigt, stehe ich plötzlich vor dem Haus selber, zu dem ich schon oft hatte wandern wollen und jetzt gewandert bin: Selma Lagerlöfs Märbacka.

Es ist eine elegante Villa im Stil des strengen, karolinischen Barocks, die durch eine gewisse Vierkantigkeit und das dunkle, in zwei Flächen abfallende Dach den Ernst der Landschaft wie-dp'ali&jlHeSt. ErleÄhter¥5Wft%t' das Portal gegen m aWIcK-fscherSeäieghhiif: Werfdet sich zu einer kleinen Gartenwiese und einem alten Baum und trägt auf seinen fünf Paaren weißer Holzsäulen eine Balkonterrasse, die ihrerseits von einem vornehmen, braunen Holzgitter eingefaßt ist.

Auf unzähligen Bildern stellt diese Fassade den feudalen Hintergrund zur „Herrin von Märbacka“ dar. Man sieht sie inmitten ihrer großen Dienerschaft und deren Kinder vor dem mittleren Säulenpaar oder einsam im fürstlichen Straußfederhut oder sitzend in ihrer Kutsche oder in dem spät angeschafften Auto. Man sieht sie auch an ein Säulenpaar gelehnt, während vor ihr der alte Prinzregent von Holland im Fond seiner Equipage sitzt, bereit zur Abfahrt. (Seine Gattin die Königin Wilhelmina, leistet ihm keine Gesellschaft: sie war so entzückt von der värmländischen Landschaft, daß sie allein hier zurückblieb, um zu malen.) Selma Lagerlöf aber lehnt bei dieser Gelegenheit ernst an einer Säule, in Gedanken versunken, als spräche sie gerade vor der Abfahrt des Prinzregenten heimlich mit dem toten Vater, dem Leutnant Lagerlöf, der 1888 das Haus wegen Schulden verkaufen mußte und dessen Herzenswunsch es doch immer war, ihm ein Schieferdach zu geben, damit man Leute von Stand zu sich laden könne. „Sieh deine Tochter“, denkt sie in diesem Augenblick vielleicht. „Märbacka hat jetzt ein Schieferdach, und das regierende Paar von Holland hat sie besucht.“ Mit einem ähnlichen Ausdruck steht sie als Gastgeberin vor diesen Säulen, als ihr das jetzige Königspaar von Schweden — es war damals das Kronprinzenpaar — seine Aufwartung machte. Da sind die Säulen mit Girlanden bekränzt: und sie selbst auch eine Potentatin, „die Königin der schwedischen Literatur“, die ihre fürstlichen Gäste willkommen heißt.

Heute herrscht keine respektvolle Stille auf dem Kies vor dem Portal, sondern ein langer Zug von Wartenden - mehrere hundert Personen - schlingt sich vom Eingang bis weit in den Garten. Es macht den Touristen wenig aus, daß es zeitweise in Strömen auf sie regnet. Sie wollen alle noch das Haus besichtigen, wo Schwedens größte Dichterin gewohnt hat und gestorben ist.

Selma Lagerlöf hat in ihrem Testament verordnet, daß Märbacka von Juni bis September für den allgemeinen Besuch eeöffnet sei. Damit kam sie einem p'ilären Wunsch entgegen. Schon zu ihren Lebzeiten pilgerten jährlich Tausende hierher und störten ihre Einsamkeit.

Schließlich konnte sie im Sommer kaum mehr am Salonfenster sitzen, so sehr bedrängten sie die Neugier und die Kameras der ungebetenen Gäste/ Von 1942 bis 1957 hat eine Million Menschen dieses Haus besucht, und das Jubiläumsjahr 1958 dürfte noch höhere Besucherzahlen ergeben. Es kommen täglich an 2000 Personen, und keine Regenschauer, die über den Park niedergehen, und keine Tropfendusche, die der Wind von den hohen Wipfeln schüttelt, schrecken sie ab, zu warten.

Ich hatte mich eben in die Queue eingereiht, da erbot sich eine Dame, die von meiner Absicht erfahren hatte, mir Märbacka allein zu zeigen. Sie stammt aus demselben Kirchspiel Oestra Emtervik, in ihrem Elternhaus hat die Dichterin 1907 gewohnt, als sie mit dem Plan umging, das Haus wieder zurückzukaufen, und sie selber war Privatschülerin Selma Lagerlöfs — also gut vertraut mit den Umständen. So dankte ich für die seltene Gelegenheit, Märbacka als bevorzugter Gast sehen zu dürfen, trat aus der Reihe und folgte ihr.

Es war doch ein gewagtes Unternehmen, eine Ausnahme zu bilden. Wir traten bei der Hintertür ein, und ich stand also ziemlich unvermittelt in Selma Lagerlöfs geräumiger Küche, wo Jas I4upfergescfiirr glänzte und blinkte: ein sol&er. Einblick wire zu ihren Lebzeiten nur einem'Befreundeten. Gast beschieden gewesen. Ich hatte doch wenig Zeit, mich darauf zu besinnen. Es erwies sich, daß drei Führungen in Gang waren, und schon öffnete sich die Gegentür, und eine erste Gruppe drängte in die Küche der Lagerlöf und füllte sie schnell. Meine Führerin fand doch geschickt einen Ausweg über die hölzerne Hintertreppe in den ersten Stock — über diese Stufen ist die Dichterin mit ihrem Stock mit Mühe gestiegen —, und so befand ich mich in ihrer Bibliothek. Ich blicke über Bücher, wo mir bekannte Namen der deutschen Literatur auffallen, stehe vor ihrem Mahagonischreib.tisch, wo noch immer die Arbeitsmappe mit dem Kalenderblatt vom März 1940 liegt — am 16. dieses Monats ist sie gestorben —, aber ich kann mir der einander überstürzenden Eindrücke nicht bewußt werden: der Vortrupp der nächsten Gruppe drängt mit seinem Guide in den Raum. Familien mit Kindern, alte Leute, Studenten, Liebespaare Hand in Hand treten beinahe feierlich ein.

Wir müssen wieder fliehen. Diesmal in das nahe Sterbezimmer, das nach testamentarischer Verfügung mit den Möbeln der Freundin Sophie

Elkan, der jüdischen Schriftstellerin und' Reisebegleiterin der Lagerlöf, gefüllt ist. Es dauert doch nicht lange, da werden wir auch von hier vertrieben. Durch einen kleinen Gang erreichen wir das Schlafzimmer, das auch Arbeitszimmer war. Ein gediegenes weißgoldenes Empirebett steht dort, das mir, trotz seiner heutigen Musealität, ein Geheimnis verrät.

Seine vier Eckpfosten tragen als Bekrönung holzgeschnitzte Tannenzapfen, weiß und golden bemalt. Es fiel mir nun auf, daß der rechts vorne stehende deutliche Spuren von Abnutzung zeigt. Die ursprünglichen Farben fehlen fast gänzlich, und ich konnte mir diesen Unterschied gegen die anderen drei nur so erklären, daß die Dichterin, die ziemlich schwer hinkte, bei ihrem Erheben aus dem Bett nicht wenig Kraft zum Festhalten auf der zunächst gelegenen Stütze aufwenden mußte, um auf die Füße zu kommen. Als ich ihr 1920 in Stockholm begegnete, merkte ich zum ersten Male, wie stark sie das Bein nachzog. In der Garderobe von Märbacka sind ihre hohen Schuhe aufbewahrt, die mit den vertretenen Absätzen etwas von ihrer Altersbeschwerde verraten.

Bekannt ist das „Wunder“, das mit dem Kind geschah. Als sie dreieinhalb Jahre alt war, entdeckte sie eines Morgens zu ihrem Sehrecken, daß sie sich nicht mehr bewegen konnte. Das Kindermädchen Back-Kaisa mußte die Gelähmte, die verzweifelt weinte, aus dem Bett tragen. Die Eltern konsultierten viele Aerzte, aber keiner konnte helfen. Auf dem Schiff, wo sie rivit Selma nach Strömstad fuhren, um sie durch Bäder kurieren zu lassen, sollte ein Paradiesvogel verborgen sein, und eine unbezwingliche Neugierde befiel das Kind, den Vogel zu sehen, der offenbar aus dem Garten Gottes zu den Menschen geflogen war. Sie kroch vom Bett auf den Stuhl, von da auf den Boden und schließlich die Treppe zur Kajüte hinunter, wo der Paradiesvogel des Kapitäns in seinem Käfig saß. Als sie das herrliche Wunder bestaunt hatte, war mit ihr selbst ein Wunder geschehen: sie, die man monatelang wie ein Bündel getragen hatte, könnte wieder gehen! Es blifcb ihr doch davon das beschwerliche Hinken zurück.

Selma Lagerlövs Vater war ein värmländische“f „Kavalier“, wie sie ihn in „Gösta Beding“ geschildert hat. Er liebte das Leben, und der 17. August, sein Geburtstag, war wegen seiner großen Gastfreundschaft bekannt in der ganzen Gegend. Oft besuchte er mit der Familie im Wagen oder Schlitten ein benachbartes Gut. Dann pflegten nur zwei Personen in Märbacka zurückzubleiben: die älteste, die Großmutter väterlicherseits, und die jüngste, Selma, die wegen ihres schlechten Fußes nicht rnitfolgen konnte. Beide saßen dann auf dem Ecksofa, das noch heute im unteren Salon gezeigt wird, und die alte Dame erzählte Geschichten, die sich vom Paradies der Bibel bis zu den Trollen der nahen Wälder oder Figuren der alten Guts- und Bauernhöfe erstreckten. Damals erfuhr das Kind von den Kavalieren und der Majorin auf Ekeby. von den geheimnisvollen Wänderzügen der Tiere, von den Dämonen, die Gewalt über den Menschen bekommen, und von der Liebe, die allein diesen Zauber wieder löst. An solchen Abenden, fern von den Festen der wärmländi-schen Gutsherrschaften, wurde der Grund zu Selma Lagerlöfs Werken gelegt.

Märbacka war Selma Lagerlöfs Leben. Als 1SS8 der kleine, rötbemalte Gutshof mit seinen weißen Fensterrahmen verkauft werden mußte und dann von einer Kand in die andere ging, konnte sie den Verlust des. Hauses nicht verschmerzen und beschloß, ihm, zu Ehren und zur Erinnerung „Gösta Beding“ zu schreiben. Das Buch, das ihren Ruhm begründete, wurzelt also hier. Als sich mit dem literarischen Erfolg auch ökonomische Sicherheit einstellte, gab sie ihren Beruf als Lehrerin in Karlskrona auf und ergab sich völlig dem Schreiben. 1907 wurde sie Ehrendoktor der Universität Upsala, und im gleichen Jahr beschloß sie, Märbacka wieder zurückzukaufen. Es bedurfte doch erst der großen Summe des Nobelpreises 1909, daß sie auch das umliegende Land erwerben und an einen Umbau im großen Stil denken konnte. Im heutigen Zustand bildet das einstöckige Haus ihrer Kindheit eine Art Kern, um den sich das neue, elegante Gebäude schließt, ist also äußerlich verschwunden. Hier hat die Dichterin ihre letzten zwanzig Jahre verbracht, die Bücher ihrer Spätzeit geschrieben, um den Löwensköld-Zyklus gerungen, dessen vierter Teil ihr nicht mehr gelingen sollte. Körperlieh und seelisch geplagt, ist sie ,81 Jahre alt hier gestorben. Nicht weit entfernt, auf dem Friedhof von Oestra Emtervik, der auf den schmalen See Fryken blickt, liegt sie neben ihrer Familie begraben.

Selma Lagerlöf und Märbacka — das bedeutet Treue zum Gegebenen von Heimat, Abkunft und Schicksal. Immer wieder auf meiner Wanderung durch ihr Haus und den kleinen Park tritt mir diese Botschaft entgegen: Ihr ernster Wirklichkeitssinn, der sie nie eine falsche Haltung einnehmen, ein unnötiges Wort aussprechen, eine unwahre Zeile schreiben ließ und doch paradoxerweise zugleich der ständig rege Impuls zu ihrer Phantasie war — ihre „Wunder“ sind „Realitäten“! —, hat zweifellos bei der Gestaltung des Hauses mitgewirkt. Märbacka offenbart den Grundzug ihres Wesens: sie verwaltet das Erbe der Familie und vollendet es in deren Sinn. In dieser Bindung an den Ursprung liegt ihre Größe: sie tut es ohne Engherzigkeit. Das Goethesche Wort „Geh erst im Endlichen nach allen Seiten“ hat im nordischen Märbacka liebenswürdig-ernst Gestalt angenommen.

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