Bevor du richtest ...

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Erika Mitterers Texte sind Ermahnungen, stets aus der Sicht des Ikarus.

Erika Mitterer 1906-2001

Querdenkerin

Der Begriff ist längst dermaßen verschlissen, dass man ihn kaum mehr verwenden kann: "Querdenker".

Erika Mitterer war eine Querdenkerin. Dabei hat sie zeitlebens noch darauf gesetzt, dass die Literatur dem Bedürfnis nach Orientierung entgegenkommen, dass sie der um sich greifenden Orientierungslosigkeit und der daraus resultierenden Angst entgegen wirken könnte. Weil sie auch darauf vertraut hat, dass man in der Literatur, nicht anders als in der Bibel, im einzelnen zwar gelegentlich kein einziges Wort, im ganzen aber trotzdem alles verstehen kann. Sie hat gleichzeitig jedoch auch dafür gesorgt, dass die Erwartungen ihrer Leserinnen und Leser, in ihren Werken eine stromlinienförmig-klare Orientierung zu gewinnen, immer wieder enttäuscht und gehörig durchkreuzt worden sind.

Erwartungen durchkreuzt

1906 in Wien-Hietzing geboren, in einem gutbürgerlich-liberalen Elternhaus aufgewachsen, kommt sie früh in Kontakt mit der so genannten schönen Literatur und mit so genannten gestrauchelten Menschen. Sie schätzt Rainer Maria Rilke, als 18-jähriges Mädchen schon eröffnet sie einen Briefwechsel in Gedichten mit dem verehrten Dichter, und eine Zeitlang scheint es, als könnte sie sich der Versuchung, im Rilke-Ton zu dichten, nicht mehr entziehen. Aber sie ist auch vom Gestus der Theodor Kramer-Gedichte fasziniert, aus der Perspektive ihrer ersten Erfahrungen als Fürsorgerin und Erzieherin sieht sie vieles ganz ähnlich wie der Verfasser der "Gaunerzinke".

In der Zeit des Dritten Reiches wird ihr Roman "Der Fürst der Welt" als Dokument der Inneren Emigration interpretiert. Aber gleich nach dem Krieg bezieht sie sich in ihrem Gedicht "An Österreich. 1945" auf das Evangelium nach Lukas 6,27-36, auf das Kapitel "Von der Vergeltung und von der Liebe zu den Feinden", um vehement dafür zu plädieren, Schuld einzugestehen und - zu verzeihen: "Bevor du richtest, forsche in Geduld: / Wie viele unter uns sind ohne Schuld? // Und fühlst du dich im Recht und weißt dich rein: / Zerreiße, Shylock, dennoch deinen Schein!"

Nach ihrer Konversion - 1965 wendet sich die evangelisch getaufte Dichterin der katholischen Kirche zu - verteidigt sie in zahlreichen Artikeln, Gedichten und Leserbriefen nicht nur religiöse Positionen, die allerorten bereits aufgegeben sind, sondern auch Leitbegriffe, die rund um das Schlüsseldatum 1968 herum nicht zuletzt von der zeitgenössischen Literatur mit gewaltigem Getöse zerschlagen werden. Opferbereitschaft für die Gemeinschaft. Gehorsam. Mut, Disziplin, Fleiß. Diesen Leitbegriffen verdanke doch das Abendland, so schreibt sie 1973 in einem Essay über die "Spätfolgen des Nationalsozialismus", seine Kultur, und "nicht nur das Abendland", "jede Kultur" verdanke den angeführten Eigenschaften "ihr Entstehen und ihre Blüte". Auch für Erika Mitterer ist evident, dass diese Begriffe durch den Nationalsozialismus desavouiert worden sind; umso mehr, fügt sie hinzu, gelte es, darauf aufmerksam zu machen, dass der Nationalsozialismus sie "zerstörerisch, im Dienst der Lüge, eingesetzt" und erst so "mit negativem Vorzeichen versehen" hat.

Der Literaturbetrieb verändert sich. Klartext-Lyrik beispielsweise gerät ganz ins Abseits. Erika Mitterer bekümmert das wenig, sie riskiert es, weiterhin Gedichte zu schreiben, die unmissverständlich, alles andere als dunkel oder oszillierend, vielmehr als Zeugnisse einer unbestechlichen Opposition bestehen wollen: Gedichte über Gedichte, die eine bedenkenlos so genannte christliche Politik mit Bibel-Zitaten konfrontieren. Gedichte über Gedichte, die unverhohlen linke Parteiungen bloßstellen und nicht weniger eindeutig jede Umarmung durch rechte Parteiungen resolut abschütteln.

Auf Seite des Ikarus

Ihre Texte, die vielfach so sehr irritieren, sind nur aus den jeweiligen Entstehungszusammenhängen heraus, als Beiträge zu laufenden gesellschaftspolitischen Debatten angemessen zu verstehen. Es sind vielfach Ermahnungen, Warnungen.

Allerdings, und das ist unbedingt zu unterstreichen, nie geschrieben aus der Optik des bedächtigen Daedalus. Denn Erika Mitterer hat sich immer auf die Seite des Ikarus geschlagen; und das macht, dass sie im Dialog wie im Streit mit den Zeitgenossen ihren eigenen, den Erika Mitterer-Ton nie verraten hat.

Der Autor ist Leiter des

Forschungsinstituts Brenner-Archiv in Innsbruck.

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